Jahreskreis

Herbstgedanken: Langsamkeitzeit

Dieser Text ist zuerst auf der KKP Facebook-Seite erschienen. Ich wollte ihn aber dann doch für „länger“ aufheben und darum ist er nun auch in den Blog gewandert.

Ein Oktober, der sich als Sommermonat verkleidet.
Zu wenig Regen, zu viel Wärme.
Aber dennoch ein Oktober, also Herbst.

Der Körper weiß es, die Seele weiß es. Das Gemüt und das Ego aber denken, dass man doch noch dies und das und jenes im Alltag unterbringt.

Mein Kopf dröhnt seit Tagen, die Migräne hat mich zu Langsamkeit verpflichtet. Daheim ist Baustelle, draußen ist es zu warm, mein Kalender zu voll und mein Kopf hat das „Heute geschlossen“-Schild rausgehängt.
Ohne mich zu fragen.

Meinem Hundemädel ist das egal. Sie will raus, sie muss, und einmal mehr muss ich mit, wenn sie muss, egal ob ich will.

Wir dackeln langsam den kleinen Berg hinter unserem Haus hinauf – Hausenberg genannt. Als ich hierher zog dachte ich, dass es Hasenberg heißt. Das war aber nur eine dialektische Lautverschleppung.

Der Berg ist mehr ein Hügel, von unserer Seite aus gesehen. Aber wenn man (=ich) müde und kopfmarod ist, wird er für 100m zum Dreitausender.

Endlich „oben“ geht es dann gemütlich und fast eben durch den Wald. Eingedenk meines morschen Kopfes und der allkörperlichen Ko-igkeit geht die heutige Hunderunde auf der „Hausstrecke“: eine Hausenbergrunde, mit viel Bockerlwerfen, damit das Hundegirl müde wird und ich nicht noch mehr.

Oben angekommen stehe ich im bunten Herbstwald. Gelb, rot, orange, braun und noch immer genug grün, damit die anderen Farben gut leuchten. Ein sanfter Wind, die Sonne blinzelt durch die Blätter, es ist angenehm schattig und ich merke, dass mein Kopf langsam aus der Versenkung kommt, aufatmet und ein wenig Entspannung zulässt.

Langsam, Schritt für Schritt, weicher Waldboden unter mir, bunter Blätterhimmel und Kieferngrün über mir, Waldluft rundum und ein quietschvergnügtes Hundemädel, dass mal hierhin, mal dahin hoppst, den Kieferzapfen nachjagt, die ich ihr werfe, und den Wald auf ihre Weise genießt: Nicht langsam, sondern im Galopp.

Bunte Herbstzeit, leuchtende Farben, die Blätter in ihrer ursprünglichen Farbe … ein unbeschreiblich lebendiges Farbenspiel, ehe es ins monochrome Dunkel des Winters geht.

Beim langsamen Waldspaziergang haben meine Gedanken Zeit sich auszudehnen, ins Philosophieren zu kommen.

Langsamkeit – das ist der Begriff, der sich heute aufdrängt, der seinen Raum fordert, der wahrgenommen werden will. Schnell geht heute eh nix. Das Dröhnen im Schädel bestraft jede flotte Bewegung sofort .

Aber in Ruhe, mit langsamen Schritten und Gesten ist das Kopfgewitter zu ertragen und beruhigt sich sogar ein wenig.

Schnell zu gehen wäre also Masochismus und weil Zwang zu etwas Gutem dennoch keine Entspannung bringt, lasse ich mich in diese zuerst erzwungene und nun willkommene Langsamkeit fallen.

Schritt für Schritt.

Der Jahreskreiszyklus, der unser Leben bestimmt (auch wenn wir glauben, dass wir über diese archaische Anpassung schon längst hinaus sind), fordert uns im Herbst zum Entschleunigen auf. Die Konsumgesellschaft, die Wirtschaft, das System in dem wir leben, ignoriert das und gibt einen anderen Rhythmus vor.

Das Ergebnis ist ein Spagat, den man in jungen Jahren, gesund und fit, einige Zeit durchhält. Aber es kostet jeden Kraft, mehr als man glaubt. Und diese Kraft fehlt uns dann, um den Winter, das lange Dunkel, gut überstehen zu können.

Dunkle Tage, Nebelschwaden, Schnee und Eis, Kälte und kahle Natur erwarten uns in ein paar Wochen.

Wir decken das mit Geschäftigkeit, Vorweihnachtstrubel, Lichterketten und Business as usual zu.

Still in uns drinnen sitzt der natürliche Mensch, das Wesen, dass mit dem Draußen seit Anbeginn verbunden ist. Und dieses Wesen hat eine Sehnsucht nach Ruhe.

Wenn man sich in den Ruhezustand begibt, ihn willkommen heißt, kann man damit wieder in Kontakt kommen.

Langsamkeit ist ein erster Schritt.
Das ist die Einladung des Herbstes.

Der Jahreskreis ist dem Atemzyklus ähnlich:

  • Einatmen: die aktive Zeit des Jahres, Wachstumsbeginn und -höhepunkt
  • Der Moment zwischen Ein- und Ausatmen: Sommersonnenwende, das Reifen beginnt, die aktive Ruhezeit im Außen
  • Ausatmen: die passive Zeit des Jahres, Ernte und Erntedank, Rückzug
  • Der Moment zwischen Aus- und Einatmen: Stille, Wintersonnenwende, absolute Ruhe und Innehalten.

Während ich durch den Herbstwald schlender, langsam, ganz langsam, beginne ich meinen Atem wieder bewusst wahrzunehmen und merke mit einem Mal, dass das Ausatmen wesentlich länger dauert als das Einatmen. Der Moment, bevor ich wieder einatme, ist deutlich länger als der, der zwischen Ein- und Ausatmen liegt.

Umgelegt auf den Jahreskreis bedeutet das (nur für mich?), dass die passive Zeit mehr Raum braucht – und das die Langsamkeit dafür sorgt, dass dieser Raum seinen Platz bekommen kann.

Einatmen kann man schnell, hastig, gezielt. Das Ausatmen ist ein Loslassen, Spannung wegnehmen, der Blasebalg fällt allein durch die Schwerkraft in sich zusammen und lässt die Luft entweichen.

Wer gepresst ausatmet, also mit Druck und hektisch, über längere Zeit, beginnt zu hyperventilieren.

Der Herbstspaziergang im bunten, heimischen Wald, umgeben von den sichtbaren, fühlbaren Zeichen der Jahreszeit, lockt mich in einen sanfte Meditation. Jedes Blatt ist ein Lehrmeister, denn es weiß besser als ich über den Zyklus des Lebens bescheid.

Mit 51 bin ich selbst im Herbst des Lebens angekommen, im Wechsel und über der prognostizierten Lebensmitte.

Die rasante Schnelligkeit des „normalen“ Lebens ist mir schon lange zuviel. Dafür haben der Herr Crohn und seine Kumpels gesorgt (LINK). Hier, im Wald, wird mir wieder bewusst, dass das auch ein Segen ist. Denn so komme ich wieder bewusster in Kontakt mit dem natürlichen Tempo, dass im Herbst des Jahres, aber auch im Herbst des Lebens naturgemäß langsamer läuft.

Der Wald ist eine Lebensschule und im Herbst überschüttet er eine(n) zusätzlich mit Gold. Es sind zwar „nur“ Blätter, aber wenn es darum geht zu verstehen, was der Wert des Lebens ist, dann sind sie genauso wertvoll wie Münzen.

Ein fast kahles, verwelktes Nussblatt fällt mir fast in die Hände. Der lange Stängel mit dem einzelnen Blatt am oberen Ende wirkt wie ein Zauberstab. Ein Waldgeschenk und mit Sicherheit voller Magie. Denn das Hundegirl ist bei diesem Spaziergang so brav wie selten, lässt sogar die obligate Katze unbejagt und steigt nonchalant über eine hektisch schlängelnde Blindschleiche am Weg.

Mit Ehrfurcht trage ich meinen Waldzauberstab nach Hause, langsamen Schrittes. Ein Teil meines Kopfwehs ist im Wald geblieben, die Langsamkeit hat es weiter von mir weggelockt.

Das Wald hat mir heute ein großes Geschenk gemacht. Nicht nur der Nussblattzauberstab, nicht nur das Kopfwehdämpfen, sondern mehr das Erinnern daran, dass die viel verpönte Langsamkeit einem schneller helfen kann, als es jede Hektik vermag.

Langsam durch den Herbst zu gehen, den Rückzug bewusst zu erleben, ist die beste Vorbereitung auf den dunklen Winter und das folgende, stille Innehalten.

Wer schnell atmet, gepresst ausatmet, um schnell wieder einzuatmen, der verpasst den Ruhepunkt – dem geht die Luft aus, bevor der Frühling die Rückkehr des Lichts bringt.

Einatmen – Innehalten – Ausatmen … Stille … und dann gehts von selbst wieder von vorne los. Ohne Zwang, ohne Druck, ganz langsam.
Wenn man den natürlichen Kreislauf des Lebens das Tempo bestimmen lässt.

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