Jahreskreis-Feste,  Jahreskreis, Ritual & Brauchtum

Die Kraft zum Reifen

Rosenblüte bedeutet: Es ist Sommer – trotzdem die Königin der Blumen heuer viel früher als sonst blüht und sich manche Sommertage eher wie früher Herbst oder nasser Frühling anfühlen. Die Rosen folgen dem uralten Plan von Wachsen, Werden und Vergehen. Auch wenn es so aussieht, als wäre dieser Kreislauf immer der Gleiche, so ist doch jeder Zyklus anders. Jede Knospe blüht nur einmal, jede Hagebutte exisitiert nur einmal. Der Rosenstrauch verändert sich mit jedem Zyklus, wächst oder wird durch innere oder äußere Umständen beschnitten, verkleinert … was auch eine Form von Wachstum ist. Die Zyklen wirken gleich und doch ist jeder anders, genährt von dem, was man als Essenz bezeichnen kann: Das, was uns im Inneren dazu bringt, diese Zyklen zu durchschreiten, Jahr um Jahr, mit dem Wissen, dass es immer auf die gleiche Weise endet. Und dennoch tun wir es, die Rosen, die Bäume, alle Pflanzen und Tiere und wir Menschen – es ist das, was uns am Leben hält.

Wir leben den uralten Trieb des Wachsen, Wandelns und Vergehens. Manche mit mehr, andere mit weniger Enthusiasmus. Manche hoffen darauf, die ersten zu sein, die diesen Zyklus ins Unendliche ausdehnen können, das unvermeidliche Ende hinaus schieben können. Andere wünschen, dass es schneller geht – weil der Weg beschwerlich ist, die Steine riesig und unüberwindbar aussehen oder weil das Wissen, die Quintessenz unserer Lernaufgaben, so spannend ist, so nährend, dass man immer mehr davon konsumieren will, immer schneller und dabei vergisst, dass das Lernen in den Pausen passiert, in der Ruhe, wenn wir das tun, was in heutiger Wirtschaftszeit so verpönt ist: Nichts. Denn jede Phase im Zyklus ist gleich wichtig und wertvoll, hat ihre Berechtigung und ihren uralten, tiefen, wertvollen Sinn – auch das Innehalten.

Sommersonnenwende bedeutet: Der Zyklus des Reifens beginnt. Der Wachstumshöhepunkt neigt sich dem Ende zu. So schön die Rosenblüten sind, so falsch wäre es, wenn sie niemals verblühen würden. Auch in Regionen, die keine so ausgeprägten Jahreszeiten haben, wie wir hier in Mitteleuropa, verblühen die Blumen und wandeln sich zu Früchten, die irgendwann einen Ernteprozess durchlaufen werden. Entweder durch Mensch, Tier oder andere Einflüsse, die die Frucht vom Körper trennt. Reifen ist ein Wachsen nach Außen UND Innen – wir wandeln uns auf jeder Ebene, in jeder Zelle, in jedem noch so kleinen und großen Element unseres Seins. Manchmal ist der Wandel klein, zart, kaum nachvollziehbar. Manchmal logisch und vorhersehbar, wie bei der Rose, die die Hagebutte schon als Basis ihrer Blüten mitbildet. Und manchmal muss sich alles komplett ändern, wird die Ausgangslage vollkommen aufgelöst und etwas ganz anderes entsteht – wie bei der Raupe, die zum Schmetterling wird.

Reifen ist das Wandeln der Energie des Wachsens in die Kraft der Fülle. Eine Fülle, die sich nicht immer an dem orientiert, was kleinmenschlich gedacht Sinn macht.

Jedes Jahr überschüttet uns der riesige Kirschbaum im Garten mit Unmengen an Früchten. Es ist eine so große Fülle, dass sie weder die Vögel noch alle Kirsch-Begeisterten der Umgebung verwerten könnten. Die meisten Kirschen landen irgendwann am Boden, werden eingesammelt und dem Kompost zugeführt. Was für eine Verschwendung … und eine konsequenzlose noch dazu, denn diese Fülle ist jedes Jahr aufs Neue da.

Lernt der Baum denn gar nicht dazu? Warum versteht er nicht endlich, dass er im Frühling gerne Millionen Blüten präsentieren kann, aber dann bitte nur ein Viertel oder noch weniger davon zum Reifen bringen sollte. Was für eine Kraftverschwendung! So dumm, so unbedacht, so sinnlos! Eine Belastung für alle rundum und überhaupt: Es sollten doch bitteschön nur die Kirschen reifen, die auf den untersten Ästen hängen. Die weiter oben, jenseits der höchsten Leiter, können gleich nach der Blüte weg oder von den Vögeln gesittet dezimiert werden.

Was für ein Glück, dass der Kirschbaum sich nicht um menschliche Logik schert, dass ihm marktwirtschaftliches Denken schlichtweg egal ist und er keinen Deut drauf gibt, ob uns seine Kirschenfülle in den Kram passt oder nicht. Er wächst, er blüht üppig, er reift seine Kirschen und wer sie dann will, kann sie haben. Was niemand will, bekommt eine Funktion als Kompost. Er beschenkt uns Jahr für Jahr, ob wir lieb und brav sind oder uns wie Idioten benehmen. Er wertet nicht. Er folgt einem Plan, der älter ist als Marktrecherchen, Planwirtschaft und all das, was wir Menschen erfunden haben. Er hat seinen inneren Auftrag und dem folgt er.

Was unterscheidet uns von ihm? Abgesehen von der Form natürlich ;-)
In erster Linie denke ich, dass er keine Zweifel hegt, keine Sinnfrage stellt. Der evolutionäre Plan predigt wachsen und vermehren. Mutter Natur hat ihre Parole ausgegeben und ihre Kinder folgen. Und Mutter Natur überlässt ihrem Nachwuchs die Art und Weise, wie die Parole umgesetzt werden soll. Der Kirschbaum macht das, was er und seine Vorfahren, was jeder Baum seit Jahrmillionen macht. Das ist eine Strategie, die sich bewährt hat, warum also ändern? Nur weil mich die gärenden Kirschen im Gras stören? Auch wenn der Geruch unangenehm ist: Im „Abgang“ nähren sie noch unzählige andere Lebewesen, die sich an ihnen laben. Für den Kirschbaum sind wir alle nur Abnehmer, die ihm helfen den Kern dieses Prozesses zu verbreiten. Buchstäblich.

Doch auf uns Menschen umgelegt funktioniert dieser Prozess nicht so ganz, denn wir haben Zweifel. Wir stellen Sinnfragen, wenn das, was wir durch die Phasen des Zyklus gebracht haben, wieder und wieder abgelehnt wird … wenn die Ernte nicht angenommen wird, wenn die Früchte ungenossen verfaulen, niemand sich für das üppige Angebot interessiert. Wir hadern, mit uns, unserer Umgebung und unseren Mitmenschen. Wenn die Ernte nicht so ankommt, wie erhofft, erheben wir Daten, suchen nach Schuldigen, schieben es auf die Zeit und die Gesinnung rundum, die verhindert, dass unser geniales Angebot entsprechend unserer Vorstellung enthusiastisch angenommen wird. Als Kirschbaum wären wir eine absolute Fehlbesetzung und schon vor langer Zeit ausgestorben.

Die Lehre der Sommersonnenwende

Die Sommersonnenwende beendet die Phase des Wachstumshöhepunkts und läutet das Reifen ein – nun gilt es das, was wir üppig gehegt, gehortet und gelernt haben in eine Form zu gießen, die Blüte in die Frucht, in ein Ergebnis zu wandeln. Es gilt gut auszuwählen, welchen Blüten wir diesen Prozess zumuten. Denn Reifen bedeutet auch, eine Auswahl zu treffen und das Potential so zu verteilen, dass das Ergebnis gut wird. Bei den Paradeisern (Tomaten) nennt man diesen Vorgang ausgeizen: Man reduziert die Triebe, damit die verbliebenen Früchte mehr Kraft, Sonne, Wasser und was auch immer notwendig ist bekommen, um zu großen, saftigen Früchten heranzureifen. Wenn alle Fruchtknospen bleiben, besteht die Gefahr, dass das Gewicht beim Heranwachsen zu viel wird, dass die Pflanze knickt oder dass sie ihre Kraft auf zu viele potentielle Früchte aufteilen muss und damit in Summe nicht genug da ist.

Ich denke, dass man dieses Beispiel besser auf unser Menschendasein umlegen kann. Wir sind keine Kirschbäume, wir schaffen es einfach nicht eine üppige Fülle an Projekten, Aufgaben und Tätigkeiten mit gleich viel Kraft zum Reifen zu bringen, Jahr um Jahr. Wir müssen eine Wahl treffen, müssen uns klar entscheiden und bestimmen, was wir in den Reifeprozess überführen wollen. Bei den Tomaten wird das ausgeizen durch den betreuenden Menschen gemacht. Das kann uns bei unseren Knospen genauso passieren, wenn wir nicht von selbst aktiv werden und bestimmen, was bleibt und was gehen darf. Diese innere Haltung, die Kraft und das Wissen, solche Entscheidungen zu treffen und sie mit Bedacht im richtigen Maß, zum richtigen Zeitpunkt umzusetzen, ist der innere Prozess des Reifens, der im Naturzyklus im Sommer beginnt und im Menschen-Zyklus rund um die Lebensmitte ansteht.

Leider ist es nicht so, dass man eines Morgens aufwacht und sich von einer Raupe zum reifen Schmetterling gewandelt hat – quasi über Nacht alle Entwicklungsschritte im Schlaf erledigt hat. Reifen ist Arbeit und kann auch schmerzen. Es ist, als würde man vom rauhen Erz zum glänzenden Stahl gewandelt – ein Prozess, der mit viel Feuer, vielen Schlägen und vielen kalten Güssen einhergeht. Wenn man glaubt, dass man durch ist, kommt das Feuer erneut, löst alles wieder auf, wir werden neu zusammengefaltet, der eherne Hammer drischt auf uns ein, zwingt uns die Lage zu verändern. Das passiert so lange, bis der Reifeprozess erledigt ist, wir die Form gefunden haben, in der wir von nun an aktiv sein wollen (oder sollen?).

Eine Alternative gibt es nicht. Denn ewig Kind oder Teenager zu bleiben, ist keine Alternative. Die Reifezeit ist genauso wichtig, wie der Impuls, der Wachstumsbeginn, der Höhepunkt, die Ernte, das Ruhen, das Innehalten. Sie gehört zum Leben dazu und sie ist auch eine Gnade, die es wert ist gelebt zu werden.

Der Höhepunkt des Sonnenzyklus ist jedes Jahr aufs neue die Zeit, die dich daran erinnert, dass auch du diese Phase durchleben wirst, sie vielleicht schon durchlebst oder durchlebt hast. Jedes Jahr fordert dich diese Zeit außerdem auf, deinen Reifestatus zu überprüfen – alles so, wie es sein soll? Braucht es hier oder da Entscheidungen? Was hat sich gegenüber dem vorigen Zyklus verändert? Brauchst du Hilfe oder kannst du anderen Unterstützung sein? Denn auch das ist möglich und immer eine Option – wir sind nicht allein in diesem Prozess, wir dürfen uns durchaus unterstützen und gegenseitig helfen. Nicht um anderen die Last abzunehmen oder die eigenen Lasten auszulagern. Sondern in Form von Austausch, aktivem Zuhören, Wisdom-Councils, Gesprächsrunden, bis hin zur Psychotherapie und professionellen Begleitung. Wir dürfen aus dem Erfahrungsschatz derer schöpfen, die diesen Weg vor uns gegangen sind. Wir dürfen uns Hilfe holen, wenn wir den Weg aus den Augen verloren haben und keine Orientierung mehr haben oder eine Entscheidung ansteht, der wir uns nicht gewachsen fühlen. Treffen müssen wir sie allein und auch die Verantwortung dafür tragen. Doch wir können uns beraten lassen und informieren. Das ist der große Unterschied zwischen dem Kirschbaum, der Rose, der Raupe und uns.

Was kannst du jetzt tun?

Nimm dir Zeit zum Reflektieren – zum Beispiel bei einem Naturgang. Welche Themen fordern dich aktuell heraus? Welchen Fragen stehst du gegenüber? Sind wichtige Entscheidungen zu treffen? Formuliere deine Themen und Fragen, welche kannst du zusammenfassen? Welche stehen für sich alleine? Nimm dir für jedes Thema ausreichend Zeit, es zu beleuchten. Geh mit deiner Frage, deinen Themen in die Natur und lass dich von deiner Umgebung inspirieren. Die Entscheidung kann dir keiner nehmen, aber du kannst dich von anderen, von deinem Umfeld oder der Natur rund um dich inspirieren lassen.

Komm in deine Reifekraft – du hast Wissen und Erfahrungen angesammelt, hast viel erlebt, auch wenn es dir vielleicht nicht so bewusst ist. Nimm dir Zeit, diese Erfahrungen Revue passieren zu lassen und auch zu feiern – du hast es bis hierhin geschafft. HURRA!
Denk nach: Wie hast du frühere Entscheidungen getroffen? Wie siehst du den Prozess heute? Was hast du dabei und in Folge gelernt? Hat es zu einem bestimmten Thema mehrere Durchgänge gegeben, die sich ähneln? Was würdest du einem Freund, einer Freundin sagen, die vor einem ähnlichen Thema steht? Wo liegen deine Kräfte, deine Stärken? Was fällt dir leicht, wo tust du dir schwer? Deine Stärken und Schwächen sind die Instrumente deiner Reifekraft. All deine Erfahrung, dein Leben hat dich zu diesem Punkt gebracht und du bist aufgefordert, dein Wissen einzusetzen, es zu kanalisieren.

Wähle die Töpfe – du hast vielleicht mehrere Themen, Projekte und Aufgaben, die dich jetzt gleichermaßen brauchen und fordern. Welche sind die, die dir näher am Herzen stehen? Welche empfindest du als Problem oder Herausforderung? Kannst du welche abgeben oder stilllegen, ohne dass dir oder anderen daraus Schaden entsteht? Was ist unabdingbar und wo kannst du die Kraft zurückstellen? Welche Töpfe sind voll und welche sind leer, ausgebrannt und stehen nur noch traurig rum? Sicher kennst du das Gleichnis vom toten Pferd und wie man es dennoch zu reiten versucht. Zieh deine Konsequenzen und wähle weise, welche Töpfe du weiter hüten möchtest und welche Pferde du für die Zukunft satteln willst.

Akzeptiere, dass du auch scheitern wirst. Denn das wirst du, unvermeidbar. Niemand plant es, niemand will es. Dennoch tun wir es und lernen unglaublich viel daraus. Wir lernen sogar mehr aus dem Scheitern, als wenn wir Erfolg hätten. Was hat dich dein Scheitern bisher gelehrt? Wie ging es dir damals? War alles schlecht oder waren da auch wertvolle Erkenntnisse mit dabei?

Finde deine Mitte. Yep, das sagen alle, das ist das klassische, esoterische Credo. Auch wenn es inflationär gehandhabt wird: Es ist was Wahres dahinter. Bist du in deiner Mitte, kannst du gut entscheiden, kannst deine Reifekraft voll wirken lassen und hast ausreichend Stabilität, um sogar ein Hagelgewitter gut überstehen zu können. Das Jahr ist in seiner Mitte angekommen, die Sonnenwende kennzeichnet den Punkt. Nun geh in deine Mitte, finde deinen Mittelpunkt, an dem sich deine Sonnenwende vollzieht.

Eine kleine Übung dazu: Stopp-Breathe-Be
Auf deutsch: Halte inne – Atme – sei … Das kann man immer wieder im Alltag unterbringen. Es braucht nur ein paar Sekunden, das geht sogar während einer roten Ampelphase. Halt inne, atme bewusst, vorzugsweise in den Bauch (= ins Zwerchfell) und spüre, wo du bist, was du spürst, ohne Bewertung. Das bringt dich unmittelbar zu dir und wenn du bei dir bist, ist es nur noch ein Schritt und du bist in deiner Mitte.

Halte durch. Die Reifephase ist eine Phase und das bedeutet, dass sie auch irgendwann wieder vorbei ist. Mag sein, dass es ein Höhenflug wird. Es kann aber auch sein, dass du an deine Grenzen kommst und die Höhe dir den Atem nimmt. Dann ist das die Aufforderung zu prüfen, ob deine Grenzen noch Sinn machen und wie gut sie halten. Reifen ist etwas, dass sich mehr im Inneren vollzieht, oft keine große Aktivität im Außen braucht. Wenngleich das Ergebnis durchaus so sein kann, dass da eine große Veränderung stattfindet. Doch die wahre Action passiert in dir und erfordert oft „nur“, dass man dem Prozess die Zeit gibt, die er braucht. Es klingt so einfach und ist genau darum so schwierig. Geduld hilft, aber die hat man meist nur dann, wenn man sie nicht dringend braucht. Es ist ein Abenteuer und gleichzeitig eine logische, natürliche Sache. Also: Halte durch.

Fazit

Wähle weise und akzeptiere, dass du sowohl gewinnst, als auch verlierst. Dass du das zurücklässt, was nicht mehr möglich ist, was nicht mehr tragbar ist, was dich im Wachsen einschränkt. Fokussiere dich auf das, was machbar ist, wo du all deine Fähigkeiten bestmöglich einsetzen kannst, zu deinem Wohle und zum Wohle aller. Und lass los, was keine Wurzelkraft mehr hat, um das zu stärken, was dich weiterträgt, mit allen Konsequenzen.

Eine Raupe hat während des Wandlungsprozesses keine Vorstellung, keinen Plan, keine Augen und keine Ohren. Sie ist gebunden im kompletten Chaos, wird vollkommen aufgelöst, in alle Einzelteile, die sich nach einem geheimnisvollen Plan neu verbinden. Das Wunder der Wandlung, das Reifen, vollzieht sich Verborgen, im Inneren des Kokons. Im Außen sieht man nur, dass die Zeit vergeht. Im Inneren aber wird eine Magie gewirkt, die sich seit Äonen bewährt hat. Die Raupe braucht nicht zu wissen, was zu tun ist, es steckt in ihr, ihre Zellen kennen den Weg. Das Einzige was sie tun muss: Die Wandlung einleiten, den Weg öffnen und dem Prozess vertrauen, mit allen Konsequenzen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert