(M)Eine wiedergefundene Geschichte: Besuch im jüdischen Museum Wien
Ein klassisches Monarchiekind, so hat meine Oma mich mal genannt, weil fast alle k.u.k-Länder in meinem Stammbaum vertreten sind.
Einige dieser Wurzeln aus fernen Zeiten haben Namen, mit denen man vor weniger ferner Zeit kein langes Leben hatte. Einige dieser Namen hatten in der Zeit vor der nicht so fernen Zeit auch das dazu passende Glaubensbekenntnis: jüdisch.
Im Weltkrieg waren die Familienopfer auf allen Seiten zu finden: in den Schützengräben, in den Konzentrationslagern, staatenlos auf der Flucht, in Gefangenschaft, in Schutzbunkern. Jahrzehnte nach diesem Trauma kam ich auf die Welt. Jahrzehntelang habe ich mich davor gedrückt, mich den älteren Teilen dieser Wurzeln früherer Zeiten zu stellen. Ich wusste von der Urgroßmutter, die einen zum Christentum konvertierten Juden geheiratet hat.
Ich wusste von den blumigen und biblischen „Mädchennamen“ auf beiden Seiten meiner Eltern. Ich kannte die Geschichte vom Onkel, der außer einem Namen, der zu eindeutig war, auch noch eine politische Gesinnung hatte, mit der man in damaliger Zeit keine gute Zeit hatte. Er war im Konzentrationslager – und einer der „Glücklichen“, die es auch wieder hinaus schaffte.
Ich wusste vom Opa, der zur Wehrmacht zwangsverpflichtet wurde, und als einer der ganz, ganz wenigen, auf Grund eines kleinen Zufalls, die Schlacht um Monte Cassino überlebte. Während der Krieg danach für ihn aus war, musste seine Frau, meine Oma, und ihr kleines Kind (mein Papa) vor den heranrückenden russischen Truppen aus der später tschechischen Region flüchten. Das Kind am Rücken, die schwerkranke Mutter – meine andere Urgroßmutter – in einer Karre, waren sie Teil des Flüchtlingsstroms, der zu Fuß Richtung Wien marschierte. Meine Urgroßmutter hat es nicht überlebt, meine Oma und ihr Kind knapp. In Wien angekommen galten sie als staatenlos. Ohne Wissen, wo Opa war, ob er überhaupt noch am Leben war.
Auf der anderen Seite des Stammbaus versuchte die andere Urgroßmutter ihren Sohn zu finden, mit ihrer Enkelin, meiner Mutter, an der Hand, in Berlin.
Irgendwann hatte sich alles beruhigt.
Das Land wurde wieder aufgebaut, die Wunden zugedeckt. Die, die für einander bestimmt waren, fanden sich, mein Bruder und ich kamen zur Welt usw. usf.
Die Geschichten waren da, aber wurden nur ungern erzählt. Meine Mutter war zu klein, um sich an alle Erzählungen ihrer Oma zu erinnern. Was sie wusste, gab sie an mich weiter und bei einigen Geschichten bin ich heute noch erstaunt, welch unendliches Glück nötig war, damit sie gut ausgegangen sind.
Mein andere Oma erzählte mir ihre Geschichte – und die meines Opas, der seine nicht erzählt haben wollte. Weil die Wunden noch immer schmerzten. Die, die man nicht sieht, die man auch als „traumatische Erinnerungen“ bezeichnen kann.
Doch die tieferen Wurzeln, die Geschichte von denen, die vor den Groß- und Urgroßeltern geschahen, diese Geschichten waren kaum noch wahrzunehmen. Allenfalls ein leichtes Flüstern, ein Wispern, ein „… und da war noch was, aber das ist schon viel zu lange her, lange vor meiner Geburt …„.
Geschichte ist etwas, was mich seit meiner Jugend interessiert. Je älter, desto spannender – ich bin ein Urgeschichts-Nerd. Die „moderne“ Geschichte, also alles ab dem Beginn der Zeitrechnung, interessiert mich meist nur bis in die Zeit vor den beiden Weltkriegen. Wobei das Interesse mit jedem Jahrhundert in die Zukunft abnimmt.
Geschichten abseits der Familie, die diese Zeiten betreffen, speziell wenn es um die Shoah geht – um die Wurzeln, die da sind, über die immer geschwiegen wurde – diese Geschichten spürten sich für mich immer schmerzhaft an. Ich war nicht fähig am Schulausflug ins KZ Mauthausen teilzunehmen. Ich machte bei Ausstellung zu den Gräueltaten einen großen Bogen – das Gefühl ähnelte immer eine vergilbten Panikattacken: es tat übelkeitserregend weh, aber nicht mir, sondern dem Teil, der da weiter unten, tiefer liegt. Was man als „geerbte Erinnerung“ bezeichnet.
Zugleich zog es mich immer wieder zu den alten und neuen Orten jüdischer Geschichte. Die Friedhöfe, die ich mir „eines Tages“ anschauen wollte. Die Synagogen, an denen ich bei Städtereisen und -ausflügen, vorbeikam, und die mich innehalten ließen, als ob da was wäre, was ich von dort holen sollte … oder wollte? Die „Städtel“-Bereich, die man teils nur noch erahnen kann, teils wieder gezeigt bekommt, und wo ich beim Herumschlendern immer wieder landete, ohne es geplant zu haben.
Komme ich an einem Stolperstein vorbei, wie man sie in unseren Städten vielerorts findet, muss ich zwingend stehen bleiben und die Inschrift lesen – hinuntergebeugt, den Gehsteig absperrend mit meiner verbogenen Haltung. Ich kann erst weitergehen, wenn ich den Namen, die Daten und den Rest gelesen habe, einen stummen Gruß geschickt habe.
Und mit jedem Jahr wurden diese ungesagten, ungekannten, unerzählten Geschichten schwerer – sie wollten wahrgenommen werden, nacherzählt, angehört. Wenn aber alle, die mehr darüber gewusst haben, nicht mehr da sind, bleibt irgendwann nur der Weg, sich dem Ganzen frontal zu stellen.
Als ich im Herbst 2019 ein paar Tage in Wien verbringen musste-durfte, um einige medizinische Untersuchungen und ambulante Arzttermine abzuarbeiten, wars es eines Morgens völlig klar: Heute gehe ich zuhören, lesen, lernen …
Heute gehe ich Erinnerungen einsammeln, die trotz der lange vergangenen Zeit zu mir gehören, zu meiner Geschichte.
Heute verbeuge ich mich vor dem größten Stolperstein und lese, was er zu sagen hat.
Ich ging mit Pflichtbewusstsein hin, weil sich das so gehört, dass man sich auch diesem Teil der österreichischen Geschichte zu stellen hat.
Ich ging mit meiner „professionellen“ Brille, wie ich meine Recherchen gern betitle, hin – um mich unemotional, hinter Kamera, Stift und Block versteckt, mit allem auseinandersetzen zu können.
Ich kam distanziert, im Touristenmodus.
Ich ging tief berührt. Nachdenklich. Und endlich versöhnt … mit dem was war, mit dem, was ich gefunden hatte.
Und ich ging in Frieden. Der Puzzlestein, der mir gefehlt hatte, war gefunden. Alt und bröckelig, tief unten im Keller, da wo die Grundmauern der alten Synagoge zu sehen sind, die 1420 von Herzog Albrecht V. zerstört worden war (Wiener Gesera).
Ein kahler Raum, mit den Resten dessen, was man nicht für den Bau der Universität davon geschleppt hatte. Ein Raum in dem nonstop in altem „Judendeutsch“ die Geschichte dieser Ruinen erzählt wurde. Wie das war, als man die, die vertrieben werden sollten, vertrieb, und die, die verbrannt werden sollte, verbrannte.
Ich stand in der Ecke, unfähig wegzugehen, musste der Geschichte bis zum Ende lauschen. Ich registrierte nebenher, nicht mal erstaunt, wie leicht ich diese alte Sprache verstand. Wäre ich allein gewesen, hätte ich mich auf den Boden gesetzt, geweint, gebetet … zu wem auch immer.
Als die Geschichte von vorne begann, konnte ich mich wieder bewegen und den Raum verlassen, wehmütig. Aber ganzer, um einen Teil mehr, der sich ohne Fugen in die Wurzeln einfügte, die ich kannte. Als wäre der Boden auf dem ich ging nun voller und fester geworden.
Geschichte besteht aus Geschichten, die vom Leben im Leben über das Leben geschrieben wurden. Manche sind schön, mit gutem Ende. Manche sind fade, aber dennoch wichtig. Es gibt Abenteuer, die gerade noch mal gut gegangen sind. Es gibt Dramen, die sich zu schrecklichen Tragödien, weit weg vom Happy End, entwickeln. Und es gibt Geschichten, die man finden, sich holen und denen man sich stellen muss, damit das nagenden Gefühl, dass da „etwas“ fehlt, Ruhe finden kann. Meine Geschichte, meine Wurzeln liegen zum Teil im vergrabenen Teil der alten Stadt, tief unten, im Keller, wo die Ruinen bewahrt werden. Für all diejenigen, die wie ich auf der Suche sind nach dem, was irgendwann nicht mehr weitererzählt wurde. Und diese Geschichten sind auch sichtbar für diejenigen, die sich das nicht vorstellen können, die keine Ahnung haben, wie und wann und wo „es“ begonnen hat.
Die sich mit einem Lächeln drüber retten wollen oder die, die dringend einen Blick von der anderen Seite der Geschichte erzählt bekommen müssen, damit der Blick und das Verständnis sich weiten können.
Es lohnt sich, auf diese Findung zu gehen.
Man kann dort viel für sich entdecken und erfahren.
Weitere Infos:
Jüdisches Museum der Stadt Wien GmbH
Tel: +43 (1) 535 04 31
Email: info@jmw.at
Website: www.jmw.at
Öffnungszeiten:
Jüdisches Museum Wien, Dorotheergasse 11, 1010 Wien,
Sonntag bis Freitag, 10:00 -18:00 Uhr, Samstags geschlossen
Jüdisches Museum am Judenplatz, Judenplatz 8, 1010 Wien,
Sonntag bis Donnerstag, 10:00-18:00 Uhr, Freitag, 10:00-17:00 Uhr
Samstags geschlossen
2 Comments
Natascha Gasche
Hej
Diesen sehr persönlichen und emphatischen Artikel, den Sie über ihre Ahnen und sich selbst verfasst haben, hat sie bestimmt viele Emotionen, Rückschauen, Nachforschungen und Zeit nach innen zu gehen, gekostet. Und sie waren dabei nicht allein. Ihre Ahnen waren und sind immer um sie herum. Ich glaube, das ihre geistigen Ahnen es sehr zu schätzen wissen, so von ihnen wahrgenommen und geehrt zu werden.
Und, für mich sind Sie eine sehr mutige Frau. Die sich traut, -in unserer „aufkeimenden brenzligen“ Zeit- vor einem Stolperstein Raum zum Innehalten einzunehmen- „sich breit macht“ und das nur, um den Geist/die Geister des ehemaligen Hauses mit Demut, Respekt, achtsame Verneigung oder einfach nur mit guten Wünschen zu versorgen.
Ich habe zwar keine jiddischen Vorfahren, aber ich bezeichne mich gerne als Kriegskindeskind. Bis ich allein dahinter kam, das ich in der 3. Generation eines verhockten und nicht aufgearbeiteten Kriegstraumas meiner Großeltern und meiner Mutter mit alten Wunden, Vorwürfen, Schmerz, Trauer, Wut, Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit, Depressionen, Härte und Kälte steckte, vergingen viele wertvolle Lebensjahre.
Daher war es für mich sehr spannend und interessant ihren Artikel über ihre Geschichte zu lesen.
Ich verbleibe mit lieben Grüßen & gesegneten Wünschen
Natascha Gasche
Michaela Schara
Hallo!
Vielen lieben Dank für diese schönen, berührenden Worte, das Reinspüren und Mitfühlen, das Mitlesen und Wahrnehmen … DANKE!
Und ich wünsche meinerseits alles Liebe, viel Kraft und Segen und das sich die belastenden Traumen in sanfte Träume, respektvolle Erinnerungen und heilsame Wurzelkraft auflösen dürfen.
Herzlichst,
Michaela