Die unbequeme Wahrheit über Dankbarkeit

Im September feiern wir Erntedank – in Kirchen, auf Festen, bei Ritualen im Jahreskreis. Die Botschaft ist überall dieselbe: Sei dankbar. Sag Danke für die Früchte deiner Arbeit. Sag Danke für die Erkenntnisse des Jahres. Sag Danke für das, was dir gegeben wurde. Sag einfach Danke.

Klingt schön. Aber Dankbarkeit ist nicht immer so leicht zu spüren, wie sie gern gefordert wird. Ich kann ein Erntedank-Ritual besuchen, hundertmal am Tag Danke sagen und es sogar ernst meinen – und doch heißt das nicht automatisch, dass ich Dankbarkeit wirklich empfinde. Echte Dankbarkeit entsteht nicht auf Knopfdruck.

Wenn Dankbarkeit schwerfällt

Was, wenn das Jahr schlicht miserabel war? Was, wenn Schmerz, Verlust oder Überforderung alles überschattet haben? Was, wenn keine Kraft da ist, noch das Gefühl von Dankbarkeit hervorzurufen?

Danke sagen ist einfach. Dankbarkeit fühlen kann zur Qual werden. Denn dafür braucht es ein ehrliches Hinschauen: auf das, was geerntet wurde. Und diese Ernte kann bitter, verletzend oder schlicht ungerecht sein.

Umso härter trifft es, wenn von außen Sätze kommen wie:

  • „Sei doch dankbar, anderen geht es viel schlechter.“
  • „Du siehst das zu negativ, schau doch auf das Gute!“
  • „Sei froh, dass es nicht schlimmer gekommen ist.“

Oder die härteste Form: „Sei dankbar, dass du keinen Krebs hast.“

Das hilft niemandem. Denn wer leidet, empfindet sein eigenes Elend als hundert Prozent. Und da spielt es keine Rolle, ob andere vermeintlich bei hundertfünfzig Prozent stehen.

Zwischen Pflichtgefühl und echter Emotion

Wie also umgehen mit einer Ernte, die sich nicht nach Fülle, sondern nach Mangel anfühlt? Wie reagieren, wenn andere Undankbarkeit unterstellen? Wie Raum schaffen für ehrliche Gefühle – auch wenn sie unbequem sind?

Denn Dankbarkeit ist kein Pflichtprogramm. Aber sie ist wertvoll, wenn sie wirklich gespürt wird. Im Jahreskreis steht sie im Herbst: als Einladung, Frieden mit dem Vergangenen zu schließen und Kraft für die stillen Monate zu sammeln. Echte Dankbarkeit nährt und trägt uns durch die dunklere Zeit.

Rituale und Realität

Viele Menschen betonen: „Ich danke jeden Morgen für alles Gute in meinem Leben.“ Das ist wunderbar – für sie. Wer aber schon damit kämpft, morgens überhaupt in den Tag zu kommen, für den ist dieser Anspruch eine Überforderung.

Für mich selbst liegt der Zugang eher am Abend. Dann, wenn der Tag gelebt ist, die Energie sich gesetzt hat und das Denken klarer wird. Abends gelingt es leichter, Rückschau zu halten und das Gute – so klein es auch war – bewusst wahrzunehmen.

Und doch gibt es Tage, da fühlt sich selbst das kleinste und stimmigste Dankbarkeitsritual wie eine Zumutung an. Dann besteht das Schönste des Tages nur darin, dass dieser Tag endlich vorbei ist.

Dankbarkeit als Übung

Die Kunst besteht darin, Dankbarkeit zu üben – gerade auch dann, wenn sie schwerfällt. Ich habe mir ein kleines Ritual angewöhnt: Jeden Abend notiere ich fünf Dinge, für die ich dankbar bin. Nicht mehr, nicht weniger.

Manchmal sind es winzige Begebenheiten: eine schöne Wolke, eine warme Mahlzeit, eine Stunde Ruhe. An anderen Tagen sind es Begegnungen, Erkenntnisse oder Momente voller Freude.

Das Entscheidende: Diese fünf Dinge sind ein Anker. Sie halten mich – an guten wie an schlechten Tagen. Sie helfen, nicht in Negativschleifen zu versinken. Sie machen sichtbar, dass es trotz allem auch Lichtblicke gibt.

Wichtig: Nimm dir dafür bewusst ein paar Minuten Zeit – und halte vorher kurz inne. Eine kurze Atemübung hilft (zum Beispiel Box-Breathing: vier Sekunden einatmen, vier halten, vier ausatmen, vier halten), ein Moment Stille oder einfach ein paar Atemzüge „ins Leere schauen“. So wird der Blick auf den Tag ruhiger und klarer.

Fünf Dinge als tägliche Praxis

  • Setz dich am Abend hin.
  • Finde fünf Dinge, die gut waren. Egal wie klein.
  • Schreib sie auf. So kannst du später nachlesen, dass es auch in schwierigen Zeiten Schönes gab.
  • Sag Danke – laut oder leise. Und spür hinein, wie sich das anfühlt.

Mehr braucht es nicht. Fünf Dinge sind genug – an guten Tagen wie an schlechten.

Einladen statt überfordern

Dankbarkeit ist kein Wettbewerb und kein Zwang. Sie ist ein Muskel, der wachsen darf, wenn wir ihn regelmäßig bewegen. Mal fällt es leicht, mal ist es mühsam. Aber genau darin liegt ihre Kraft.

Falls es dir schwerfällt, Dankbarkeit zu spüren: Fang klein an. Bleib bei deinen fünf Dingen. Lass dir Zeit. Mit der Übung wächst nach und nach ein Gefühl, das dich trägt – ehrlich, echt und stärkend.

Und vielleicht magst du deine eigene Methode mit uns teilen: Wie findest du Zugang zur Dankbarkeit? Schreib es gern in die Kommentare.

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