Die Geschichte von der tiefen Weisheit der Herbstblätter
Herbst – ein Zeit, die ich zu lieben gelernt habe, ohne zu wissen, dass ich es lernen musste. Wenn die Tage kürzer werden, die Temperaturen sinken und sich der Nebel sanft über alles legt, dann sinke ich in die Ruhe. Sofern mein Kalender mir das zugesteht. Heuer war es so und ich habe mir zudem Anfang November ein paar Tage in einer Therme geschenkt – Ruhe mit heißem Wasser und besonderem Komfort, sozusagen. Zu der von mir für mich geplanten Überraschung bekam ich dann einen unerwarteten Bonus als Draufgabe und den möchte ich hier mit dir und allen anderen teilen: Die Geschichte von der Weisheit der Herbstblätter.
Die Ankunft beim Hotel ist ein farbenfroher, imposanter Auftakt, der mich sofort berührt und bis zu meiner Abreise nicht mehr loslässt: Urweltmammutbäume begrüßen mich ! Als Allee, in Gruppen, rund um das Hotel – sie stehen überall im Park. Dazwischen wachsen noch andere Bäume, doch die Metasequoien, wie sie lateinisch heißen, sind die Herrscherinnen des Ortes.
Diese Baumart ist ein lebendes Fossil, man dachte sie seien schon lange ausgestorben. Doch in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat man in China lebende Exemplare dieser Gattung entdeckt und seither verbreiten sie sich wieder über die Welt. Auch wenn es sich um Nadelbäume handelt, verlieren sie im Herbst ihre „Blätter“ und verfärben sich rot, orange, gelb, bis hin zu einem warmen, bronzenen Ockerbraun.
Egal wohin ich den Blick wende, er fällt immer wieder auf diese wunderschönen, bunten Bäume. Obwohl es November ist gehe ich barfuß durch den Park, taste mich auf dem Bett der ockerbrauen Nadeln über den Boden und es ist ein Genuss. Die Nadelblätter sind weich wie Federn, sanft und biegsam, sogar wärmend. Über mir das Goldorange, durchsprenkelt mit grünen Stellen, dazwischen Gelb und Rot changierend. Unter mir der Federflaum der Giganten und ich grüble, ob es sich nicht vielleicht doch um Sumpfzypressen handelt, die jüngeren „Verwandten“ des Urweltmammutbaums. Der Unterschied ist gering, man muss sich die Blätter genau ansehen. Der Urweltmammut hab gegenständige, die Sumpfzypresse wechselständige Blattstände. Erst zuhause werde ich mir ganz sicher sein, wenn ich die Blätter im Internet vergleiche. Hier, im Park, ist es mir herzlich egal – es ist mir gerade viel wichtiger die Schönheit zu genießen und dem Rauschen zuzuhören.
Denn die Blätter flüstern mir ihre Geheimnisse zu. Die erhoffte Ruhe und die Novembertage, die Zeit um Samhain, tragen das ihre dazu bei, dass ich mich tief in der Philosophie ihrer Blattgeheimnisse verliere – ein tiefgehender Medicine-Walk durch bunte Herbstgedanken beginnt.
Ähnlich wie die Blätter sinke auch ich in den Herbst meines Lebens. Auch mein „Grün“ zieht sich zurück und gibt den Raum für andere Farben, andere Besonderheiten frei. Meine roten Haare habe ich schon vor vielen Jahren hinter mir gelassen und betrachte täglich fasziniert die seltsame krausen, weissen Häarchen, die sich ihren Platz auf meinem Kopf erobern. Dazwischen sind welche die glatt herauswachsen, um nach 1-2 Zentimetern einen irren Hacken zu schlagen. Wie ein dünner weißer Blitz, der aus dem Wirrwarr meiner Gedanken seinen Weg ins Aussen gefunden hat.
Ich bewundere die krausen wie die blitzgeformten Haare und immer wieder aufs Neue erstaunt, dass es mein Kopf ist, auf dem sie sich breit machen. Woher nehmen sie das Selbstbewusstsein sich mir so zu zeigen, mich allen anderen so zu zeigen? Sie gehen ihren Weg und scheren sich nicht darum, was ich ursprünglich im Sinn hatte. Vielleicht wissen sie mehr als ich und das allein ist schon sehr spannend.
Die Blätter im Hotelpark sind sehr mitteilsam und ich bin fasziniert von der Vielfalt, die sich zeigt. Jedes Blatt hat seine eigene Färbung, geht seinen eigenen Weg, sobald sie ihren Job getan haben. Bereits Anfang August stellen die Bäume das Wachstum ein und beginnen mit dem Rückzug. Lange bevor man es im Außen sieht, hat sich im Inneren bereits viel getan. Die Blätter verabschieden sich in den darauffolgenden Wochen mehr oder weniger langsam vom Grün des Chlorophylls. Sie steigen aus dem „aktiven Arbeitsleben“ aus und zeigen ungeniert das, was unter dem konformen Anstrich steckt: Ihre ganz eigenen, natürlichen Farben.
Manche Blätter erleben diese Transformation nicht, sie fallen vor der Zeit vom Baum. Ein Sturm, die Ernte, Menschen oder Tiere, die vorsätzlich oder unbedacht Blätter und Äste abreißen, eine Krankheit, eine Verletzung, die nicht ausheilt … die Gründe, warum manche Blätter den Herbst nicht erreichen sind ähnlich vielfältig, wie sie es bei uns Menschen sind.
Gefühlt habe ich den Eindruck, dass die Blätter den Herbst intensiver feiern, als wir Menschen und das, obwohl nun ihr Ende gekommen ist. Dennoch vibrieren sie mit einer ganz eigenen, magischen Schwingung. Sie kosten die Tage aus, kleiden sich täglich neu, tanzen bunt im Wind und selbst wenn sie (früher als geplant) vom Baum segeln, verzaubern sie den Boden noch mit ihrer Farbenpracht.
Herbstblätter sind frei das zu tun, wonach ihnen der Sinn steht. Sie haben für den Baum keine großen Aufgaben mehr zu erfüllen. Ihre Pflicht ist getan, nun beginnt die Kür und sie bekennen Farbe, treten heraus aus der Konformität, brillieren mit Vielfalt. Der berühmte Indian Summer ist eine Farbsymphonie, die den Herbst und seine Blätter braucht: Ein triumphales Blätterauschen, ein letzter wilder Gruß, ehe der Winter das bunten Treiben in monochrome Stille verwandelt.
Als letzter Akt in diesem Schauspiel vollzieht sich der tiefe Wandel: Die Distanz zwischen Wurzel und Blatt wird abgebaut. Mit dem Herunterfallen beginnt für die Blätter der letzte Schritt im Zyklus, mit dem sie ihrem Baum noch einmal Gutes tun können. Am Boden liegend, sichtlich abgestorben, sinken sie langsam als Kompost zu den Wurzeln des Baumes und nähren so das, was in Zukunft wachsen darf. Alles, was das Blatt an „Erfahrung“ gesammelt hat, all sein Erleben, im Innen wie im Außen, geht nun als Essenz in die Wurzelkraft über – ein unglaubliches Mysterium. Aus den Versorgten werden die Versorger. Sie geben zurück und helfen beim Wachsen des Neuen. Ein schöneres Sinnbild für den Lebenskreislauf gibt es nicht.
Ich stehe im Park und die Blätternadeln des Urweltmammuts rieseln rund um mich zu Boden. Ihre Zeit ist gekommen und sie erinnern mich, dass auch meine irgendwann kommen wird – nur wann? Beginnen sich meine Herbstfarben schon zu zeigen? Was hab ich noch zu bieten? Ich bin ein Blatt am Stamm des Lebens, dessen Grün schwindet. Ein Blatt unter vielen, dessen Aussicht auf den Himmel und den Erdboden gleichermaßen weiter wird, je mehr Blattfreunde rundum sich verabschieden. Das sind tiefe Fragen und Gedanken, dennoch spüren sie sich, hier unter den Mammutbäumen, nicht schwer an.
Ich weiss nicht ob mein Baum einer ist, dessen Blätter sich früh verabschieden. Bin ich eine Blattnadel an einer Metasequoia oder hänge ich an der Robinie, die bei mir zuhause zu den letzten gehört, die sich von ihre Blättern trennt? Zuhause ist noch gut ein Viertel der Blätter auf dem riesigen Kirschbaum und bei unserer Lärche hat gerade mal die Verfärbung eingesetzt. Bei der Eiche wird sich im Herbst nur ein Teil der Blätter verabschieden, der Rest geht erst im Frühling, wenn die neuen Blätter kommen. Beim Kirschbaum sitzen auch schon die neuen Knospen an den Zweigen und vielleicht sehen die letzten Blätter ihre Aufgabe darin, diese zarten Blütenembryos vor Herbsttürmen und Frost zu schützen.
Mein Glück ist, dass ich nicht weiß, welches Blatt ich bin, wecher Art mein Lebensbaum angehört. Zugleich ist das natürlich auch das Zuhause meiner Zweifel. Doch wie meine Mutter immer gesagt hat: Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben. Es ist müßig sich darüber Gedanken zu machen.
Der Lebensherbst ist eine unglaublich spannende Zeit und heute haben die meisten Menschen die besten Chance ihn gesund und fit zu erreichen. Doch aus der Besonderheit des „hohen Alters“ wurde ein Diskontangebot, auf das sich die wenigsten einlassen wollen. Schließlich bekommt man es irgendwann ohnehin nachgeworfen und aufgezwungen. Warum also früher zuschlagen?
Forever young, heißt die Devise. Der weisse und rote Sektor des Lebenskreises wird immer weiter ausgedehnt, in der Hoffnung, den schwarzen Sektor so auf ein Minimum zu reduzieren. Dabei schneidet man sich jedoch ins eigene Fleisch. Denn so werden auch die Kostbarkeiten, die Schönheit und die tiefe Weisheit dieser Zeit beschnittenen, ignoriert, abgelehnt. Die Hochachtung für das Geschenk des Alters ist schon lange auf der Strecke geblieben. Was übrig bleibt ist der bittere Bodensatz, der niemandem erspart bleibt, wenn das Leben auf natürliche Weise an sein Ende kommt. Dann wird aus dem dunklen Schatz, aus der Liebesessenz des bisher Erlebten, ein gräulich drohender Schattenriese, ähnlich einem Schreckgespenst aus den alten Kindermärchen. Darüber reden ist tabu, als könnte man der Tödin damit zu früh die Tür öffnen. Ehrliche Bekenntnisse über das eigene Alter werden ab 50+ reflexartig abgewehrt: „Aber sooo alt siehst du noch gar nicht aus!“
Alt werden wollen alle, aber alt sein will keiner – eine Zwickmühle. Andererseits: Wer nicht alt werden will, muss jung sterben und das ist ja nun auch keine Alternative. Also wäre es doch gut und sinnvoll, sich nicht nur mit dem Mehr der Jahre, sondern auch mit der damit verbundenen Besonderheit auseinanderzusetzen – oder? Leider ist die Wertschätzung und das dazugehörige Know-How gemeinsam mit unserem europäisch-schamanischen Erbe in den tiefen Wirren der letzten 4-500 Jahre verschwunden.
Wieder zuhause angekommen empfängt mich der Novembernebel, den ich so liebe. Er ist mir ein Freund, mit einem immerwährenden Versprechen, dass ich mich jederzeit in ihm verlieren kann, er mich auffängt und behütet. Er ist auch ein mahnender Begleiter, der daran erinnert, dass das Ende des Jahres in Sichtweite ist und nun die Zeit gekommen ist, den Rückzug in die Stille anzutreten. Seine watteweiche, kühle Präsenz kann man nicht ignorieren, er zwingt uns zu Langsamkeit. Meine Gelenke korrespondieren zudem ganz intensiv mit ihm und ich kann mir den Blick auf die Wetter-App sparen – meine Gelenke wissen intuitiv, wenn das Wetter umschlägt. Dennoch mag ich den Nebel, auch wenn mir seine Gefahren durchaus bewusst sind. Denn im Nebel unterwegs zu sein erfordert Aufmerksamkeit, Ruhe und Erfahrung. Auch im schnellsten Fahrzeug muss man nun ein paar Gänge runter schalten, damit man nicht vom Weg abkommt.
Das Spazierengehen im Nebel hat eine intensiv meditative Wirkung auf die Gedanken. Der Blick wird ins Innere zurückgeworfen, die Konturen werden weich und zugleich bekommen die Objekte eine eigene Intensität, als würden sie sich nun von einer ganz anderen, intimen Seite zeigen. Im Nebel kommen ich in Kontakt mit dem, was in mir ist, was das Jahr mir gegeben oder aufgezwungen hat. Narben sind spürbar, Erschütterungen hallen nach und es bedarf meiner liebevollen Achtsamkeit, dass ich mich von ihnen nicht in die Tiefe ziehen lasse. Sie wollen noch einmal Beachtung finden, dann sinken sie sanft in den Boden. Die Nebelwand umgibt mich wie einen schützenden Raum, ein heiliger Kreis, den ich mit mir trage, der zugleich mich trägt. Auch beim Gehen heißt es achtsam sein, auf den Weg zu achten und bei sich zu bleiben. Sonst wird aus dem schützenden Raum ein kalter Irrgarten, indem man sich verläuft. Der Nebel ist ein harter, aber auch sehr berührender Lehrmeister.
Im Herbst des Lebens angekommen, kann der Nebel zum Freund oder Feind werden. Die einen schätzen die rarer werdenden sonnigen Tage als limitierte Kostbarkeit und dunkle Nebeltage als willkommene Erholungsphase. Die meisten, die ich kenne, mögen den Nebel aber so gar nicht. Zu kalt, zu klamm, zu finster, zu … benebelt ist er. Er löscht die Konturen aus, die Halt gegeben haben, lässt einen frieren und wird für viele zu einer Schreckgestalt, die drohend die Keule der dunklen Winternächte schwingt, in der die innere Sonne zu erfrieren droht.
Für andere wird der Nebel im übertragenen Sinn zur Flucht: Demenz und bewusste Vergesslichkeit legen sich im Alter wie Nebel über Erinnerungen. Manche wählen sogar bewusst die Sichtweise, bei der die weniger schönen Erlebnisse, bis auf ein paar brutale, im Nebel der Erinnerung versinken und vergessen werden. Es ist eine Kunst, diesen inneren Nebel mehr oder weniger bewusst zu lenken, und sich das gelebte Leben rückblickend umzubauen.
Beim Hundespaziergang betrachte ich die verbliebene Blätter an den Bäumen. Sie flüstern mir zu, dass ihre Zeit gekommen ist und das gibt mir zu denken. „Keine Zeit!“ gilt als klassischer Pensionisten-Slogan. Als würde der Lebensherbst auch an der Uhr drehen und die Stunden um viele Minuten kürzen. Vor Jahren hat mir eine Freundin gesagt, dass sie erst jetzt, mit damals knapp 50 versteht, dass der Spruch kein Scherz ist – die Zeit wird mit zunehmendem Alter tatsächlich knapper. Das liegt daran, dass man einfach schon viele Jahre gelebt hat. Ein 2-3 jähriges Kind hat gerade mal die Erfahrung von 2-3 Lebensjahren, an die es sich erinnern kann, und so wird eine Woche zu einer unglaublich langen Zeit. Als Kind waren 9 Wochen Sommerferien für mich eine Ewigkeit, in der ich viel unternommen habe und trotzdem noch genug Zeit für Langeweile da war. Heute, mit 55, sind 3 Monate gefühlt ein längerer Augenblick.
Die Blätter am Weg rascheln leise und ich überlege, ob sie mir noch etwas sagen wollen. Ein Blick in die Baumkrone unseres Kirschbaumes zeigt mir, dass die Blätter auf der Wetterseite schon fast alle weg sind. Diese Blätter haben am meisten erlebt und mussten viel aushalten, sie sind am exponiertesten Platz gewachsen. Je näher am Stamm und je weiter weg von der Wetterseite, desto geschützter wären sie. Aber dort ist es auch weniger sonnig, die Aussicht ist verdeckt, man bekommt viel weniger von dem mit, was passiert. Schutz oder Abenteuer – das scheinen die Optionen zu sein, wenn ein Blatt „auf die Welt kommt“. Für Menschen ist es einfacher: Wir können jederzeit unseren Platz wechseln, uns mal mehr, mal weniger exponieren. Wir können oben in der Krone sitzen und Ausschau halten, uns den wilden Wind um die Nase blasen lassen und im Fall des Falles, wenn es zu intensiv wird, ein paar Stockwerke tiefer wandern, auf einen erholsamen Plausch mit anderen. Einem Blatt ist das nicht möglich.
Der rational denkende Teil meines Gehirns erklärt mir grimmig, dass das alles ja ganz nett, aber rein botanisch, biologisch, wissenschaftlich einfach nur Nonsense ist – eine hübsche Phantasie. Doch im Inneren sitzt die Intuition und schenkt dem kreativ-emotionalen Teil in mir ein Fleißsternchen. Sie ist älter und weiser und mag Geschichten und das Philosophieren. Denn sie weiß, dass das ein wichtiger Teil dessen ist, was man „Erlebnisse verarbeiten“ nennt.
Bei meinen, mittlerweile sehr seltenen, Facebook-Besuchen stolpere ich „zufällig“ über ein Beitrag von Wolf Dieter Storl und ein Satz springt mich regelrecht an:
„Pflanzen sind Vermittler, Zwischenwesen, oder wie es der Pflanzenliebhaber Goethe einmal sagte, sie sind »sinnliche, übersinnliche Wesen«, halb in dieser, halb in der geistigen Welt.“
Wolf Dieter Storl via Facebook
Ich höre ein leises, inneres Kichern aus Richtung meiner Intuition und muss auch äußerlich schmunzeln. Mit dem gefundenen Satz verschließe ich der inneren Logik sanft, aber bestimmt den Mund, und nehme die Geschichte, das Erlebte und alle Gedanken, die sich daraus ergeben haben, als ein wunderschönes Geschenk zu meinem 55. Geburtstag an – ein Geschenk, das mir die Herbstblätter zu Füßen gelegt haben.