Die Eibe auf der Mauer
Niemand hat sie gepflanzt, sie wächst aus eigenem Antrieb, krallt sich in die bröckelnde Mauer, schwebt zwischen Himmel und Erde, unter ihr fließt der Bach und über ihr lockt manchmal die Sonne zwischen den anderen Bäumen.
Es gibt wahrlich bessere Plätze und wenn es dereinst ans Revitalisieren des Parks geht, sind ihre Tage gezählt.
Doch das ist ihr egal. Sie trotzt den „gesellschafftlichen“ Vorgaben und klammert sich lebensfroh an ihre Ziegel und Steine.
Radiästhetisch gäb es da einiges dazu zu sagen, zu diesem Platz und das die Eibe hier nicht zufällig wächst.
Doch auch abseits der Umstände, welche die Eibe an diesen Platz gerufen haben, gibt es viel zu erzählen.
Zum Beispiel das dieser Nadelbaum zu den härtesten Hölzern zählt, was sie seit tausenden von Jahren als Nutzholz für Bögen, Speere, Musikinstrumente … prädestiniert hat.
Leider, denn in England ist sie aus diesem Grund fast nicht mehr zu finden.
Dabei ist sie hochgiftig. Einzig der rote Fruchtmant um ihre Samen ist für uns Menschen und die meisten Tiere genießbar. Andererseits ist es genau dieses Gift, dass heute in der modernen Krebstherapie eingesetzt wird. Was kurz zu einem zweiten Eiben(Aus)sterben geführt hat, bis man Wege fand, den Wirkstoff synthetisch herzustellen. Und bis man auf die Idee kam, Eiben gezielt zu anzupflanzen – als Lieferanten für Holz und Medizin, aber auch zur Bodenbefestigung gegen Erosion, zum Beispiel in China.
Gräbt man in den tiefen der Geschichte, findet man Spannendes rund um die Eibe: der älteste Speer der Menscheit besteht aus Eibenholz und auch Ötzis Bogen war aus Eibe.
Aber nicht aus dieser hier, die ist noch jung und freut sich des Lebens. Was sie hoffentlich lange tun wird, denn Eiben werden sehr, sehr alt. Die älteste bekannte soll an die 5.000 Jahre alt sein. Was uns die wohl alles erzählen könnte, wenn ihr einer zuhören würde …
Ich fürchte aber, bei dieser hier auf der alten Mauer stehen die Chancen eher schlecht, ein hohes, mythologisches Alter zu erreichen.
Aber noch steht sie, wackelt frech und vorwitzig im Wind mit den Ästen. Vielleicht grüßt sie damit ihre Kollegen, die unweit von ihr wachsen und sich auf festen Boden zusammengerottet haben. Eng, zusammengedrängt, auf Dauer sicherer.
Doch nicht mit so einem Überblick über den Park und ohne dem Nimbus der Widerstandskämpferin.
Es scheint, als würde diese Mauereibe dem kurzen, vorwitzigen Leben auf wackeligem Geländer dem langen Dasein auf festem Untergrund den Vorzug geben.
Wer´s als Gleichnis sehen will, der kanns so sehen – für mich hat es viel mit Mut zu tun.
Mut dazu, sich seinen Platz zu erobern, ihn mit Wurzeln zu festigen, oben zu stehen aber dennoch nicht von oben herab zu blicken … die Eibe auf der Mauer hat sich ihren Platz erobert, wächst zwischen Himmel und Erde – freiwillig.
Es tut gut ihr dabei zuzusehen.
… und dabei fliegt mir, zufällig, ein Zitat zu:
„Selbstdenken ist der höchste Mut.
Wer wagt, selbst zu denken,
der wird auch selbst handeln.“
Marie von Ebner-Eschenbach