Jahreskreis, Ritual & Brauchtum

Das Jahreskreis-Dogma

Als ich dieser Tage einen kurzen meiner seltenen Ausflüge auf Facebook unternahm, schwemmte mir der Algorithmus eine ganze Flut an Beiträgen und Einladungen zu Jahreskreisfesten in den Feed. Tipps und Hinweise, was es nun dringend zu beachten gilt. Einladungen zu abendlichen, ganztägigen oder mehrtägigen Veranstaltungen, on- und offline. Vorschläge zu Gruppen, wo sich alles um das Rad mit den acht Speichen dreht …

Uff, war der erste Gedanke, gefolgt von Druck und schlechtem Gewissen, weil ich noch nicht auf den Zug aufgesprungen bin. Sei es um mitzufahren oder um ein eigenes Gleis aufzumachen. Himmel hilf, ich hab noch keinen Plan für das nächste Fest! … Uff.

Die Jahreskreisfeste boomen

Allen voran die Rauhnächte (denen die Sperrnächte unmittelbar voran gestellt wurden und wenn du noch nicht davon gehört hast, dann bist du sehr hinten nach), Dicht gefolgt von den beiden Sonnenwenden, mit der winterlichen ganz klar voran. Deutlich weiter hinten folgen die Tag- und Nachtgleichen, gleich auf mit den Mondfesten. Obwohl Imbolc-Brighid-Lichtmess gerade stark aufholt. Beltane-Walpurgis-Maifeiern ziehen ebenfalls stark an. Im Herbst streiten sich die Geister buchstäblich darum, ob Halloween oder Allerheiligen besser ist und warum wir nicht überhaupt nur Samhain feiern sollten. Ganz klar abgeschlagen liegt Schnitterfest-Lughnasad-Kräuterweih am absolut letzten Platz. Mag auch daran liegen, dass es mitten im Sommerloch angesiedelt ist und es da jedem zu heiß ist.

So unendlich viele Angebote …

… es sollte eigentlich eine Freude sein, diese neue entdeckte Naturspiritualität. Aber es bleibt die große Frage: Welches ist das echte, das richtige, das einzig Wahre? Wer hat die Weisheit gepachtet, wo sind die richtigen, die wirklich ursprünglichen Feste und wer hat sie am besten in die neue Zeit zu uns gerettet? Welchen Propheten, PriesterInnen, RitualkreisleiterInnen … kann man guten Gewissens folgen? Will man rein klassisch europäische Ursprünge? Oder doch lieber ein paar südamerikanische Inspirationen von Mayas & Co.? Oder besser die Medizinradweisheiten der indigenen nordeuropäischen Völker? Aber sollten wir uns nicht besser doch nach dem nordeuropäischen Wissen orientieren? Und was sagen die SchamanInnen zu alldem? Haben die denn gar keine Meinung? Wessen Dogma ist das einzig Wahre?

Moderne Zeiten und Social Media machens möglich

Jeder Prophet, jede Prophetin darf ihren eigenen Claim verkünden und als ultimatives Dogma, als alleiniges neu oder wieder entdecktes Heiligtum anpreisen. Das Volk zieht, wie beim Speakers Corner im Hydepark von Bude zu Bude. Verweilt mal länger, mal kürzer. Manch RuferIn wird ignoriert (zu lapidar, zu wischi-waschi, zu strikt, zu wenig rigide, zu abstrakt, zu überholt), andere sind regelrechte Magnete, die Scharen in Bann ziehen. Dazwischen finden sich ein paar mahnende RuferInnen, die zu Einkehr aufrufen, sich aber mit denen, die neue Zeiten proklamieren oft ein Schreiduell liefern.

Wer unvorbereitet in diesem Wissens- und Brauchtumskessel landet, ist schier überwältigt von allem und jedem. Alles wirkt logisch und schlüssig und – Marketing sei Dank! – das meiste wird auch so angeboten, dass man sehr gerne zuschlagen will. Also einkaufstechnisch, nicht buchstäblich.

Wer sich nur mal umschauen möchte, schwimmt zwischen all den Angeboten bald nur noch orientierungslos herum. Bei genauerer Betrachtung findet man genug Übereinstimmungen, die eigentlich ausreichen müssten, um einen gemeinsamen Konsens zu finden. Aber so weit kommt es selten. Was bleibt ist die Frage: Wer hat recht und was ist die „richtigste“ Version?

Gehen wir ein paar Schritte raus aus dem spirituellen Marktplatz. Mit Abstand überblickt man vieles deutlich besser und vor allem kann man die eigenen Gedanken und Empfindungen wieder wahrnehmen. Nach einer kurzen Ausnüchterungsphase, in der der Drang, bei jedem Hype dabei zu sein, sanft abklingen kann, wird es Zeit, den realen Tatsachen ins Auge zu blicken.

Fakt ist:

Wir haben in unseren Regionen vergessen, wie man diese Feste „richtig“ feiert. Das alte, überlieferte Wissen wurde am Ende des Mittelalters inquisitorisch ausgelöscht. Die mageren Reste wurden dem neuen Glauben einverleibt. Nicht weil sei „richtig“ waren, sondern aus Marketinggründen notwendig, um den störrischen Teil der KonsumentInnen vom neuen Glauben zu überzeugen. Das hat gut funktioniert. Hat man die Wahl zwischen Auslöschung und Assimilation, fällt die Entscheidung meist rasch und leicht.

Der neue Glaube konnte somit über Jahrhunderte hinweg gute Erfolge verbuchen. Doch nun hat diese Glaubensrichtung, nach sehr langen und intensiven Perioden der Jahresrhythmenbestimmung, zunehmend Existenzprobleme. Hinzu kommt, dass sich die ehemals neuheiligen mit den brauchtümlichen Ritualen so eng verbunden haben, dass in vielen Fällen die „Heiligkeit“ zugunsten der Folklore verloren ging. Stichwort Faschingsbräuche, Almab/auftrieb, Kirtage/Kirchweihfeste, Weihnachten, Ostern und ähnliches. Je mehr Touristen man anlockt, desto besser. Denn die Religion unserer Zeit heißt „Wirtschaft“ – sie muss leben, wachsen, gedeihen und dafür müssen Opfer gebracht werden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Das uralte, indigene Wissen aus früherer Zeit ist in unseren Breiten verloren. Für immer. Das wird als hinreichend guter Grund dargestellt, um sich an anderen Kulturen zu orientieren, wo dieses Wissen weitgehend überleben konnte. Der Ansatz ist gut, die Ausführung leider selten.

Die Sehnsucht nach dem heiligen Kern in diesem Wissen, dem ursprünglichen Grund warum man überhaupt Feiern quer durchs Jahr inszeniert und lokal unterschiedliches Brauchtum entwickelt hat, diese Sehnsucht ist nach wie vor da. Tief verwurzelt ist sie ein Urbedürfnis unserer Spezies.

So wie der Lachs an seinen Geburtsort wandert, um zu laichen, ohne sich zu fragen, ob es nicht eine nahe liegendere Lösung für diese Handlung gibt, so tief sind wir mit dem Jahreskreisrhythmus verbunden. Was gut ist – denn es ist ein Zeichen, dass wir tief in uns nach wie vor eine innige Verbindung mit unsere ältesten Mutter, unserem Planeten, und seinem Naturraum haben. Diese Verbindung weckt die Sehnsucht nach dem Feiern der Zyklen.

Dabei ist es komplett egal, in welcher Weise man die acht Feste, die Speichen des Jahresrades, zelebriert. Absolut, komplett egal, in jeder nur erdenklichen Hinsicht.
Vielleicht liest du diese Sätze nochmal, langsam und laut, zur Sicherheit – ich meine es genauso, wie es da steht. Jedes Wort.
Es. ist. komplett. egal. WIE. du. die. Feste. feierst.

Das, was dein innerer Kern braucht, wo die oben beschriebene Sehnsucht verankert ist, ist lediglich das achtsame und bewusste Wahrnehmen der sich verändernden Qualitäten im Jahreskreis. Es ist also NICHT wichtig WIE du feierst. Sondern DASS du es tust.

Wobei feiern mitunter schon wieder Druck ist, der Stress macht, im Positiven und im Negativen. Ersetze es zur Übung mal mit „wahrnehmen“: Wichtig ist, dass du dir die Zeit gibst, die sich verändernden Qualitäten des Jahres bewusst wahrzunehmen.

Innehalten, ruhig werden …

… die Natur zu spüren: Wwas tut sich rundum, was hat sich verändert zu gestern, seit letzter Woche, letzten Monat?

Innehalten, ruhig werden, in dich hinein spüren – wo stehst du? Wie geht es dir? Spürst du Resonanz zu dem, was sich in der Natur tut? Wo spürst du diese Resonanz? Und umgekehrt: Wo stehst du komplett woanders? Fühlst du dich eingebunden im natürlichen Sein? Auf allen Ebenen? Erscheint es dir stimmig oder wehrt sich etwas in dir? Was brauchst du, um es zu verstehen und was brauchst du, um in diesen Takt zu kommen?

Innehalten, zur Ruhe kommen – vielleicht kannst du nach einiger Zeit die beiden zarten Fäden aufnehmen und achtsam miteinander verbinden. Den natürlichen Rhythmus kannst du niemals ändern, er ist mit der Natur und unserer Mutter Erde ewig verbunden. Aber du hast es selbständig in der Hand, deinen eigenen Rhythmus an den natürlichen anzupassen. Durch Innehalten, zur Ruhe kommen, in dich und den Raum um dich hinein zu spüren.

Mehr braucht es nicht, um in den Jahreskreisfeste-Fluss zukommen, um wieder im Rhythmus zu sein. Je öfter du diese Wahrnehmunsübung machst, desto klarer erkennst du die Veränderungen und kannst deine eigenen Empfindungen besser einordnen. Wie Puzzleteile fallen diese Bausteine dann an ihren angestammten Platz und du bekommst ein Bild, das für dich einzigartig und absolut stimmig ist.

Diese kleine Zeremonie kann man jederzeit machen. Zum Beispiel um den Tag zu begrüßen. Oder wöchentlich, um die Arbeitswoche zu beginnen oder abzuschließen. Monatlich, um das Weiterwandern des Kalenders spürbar nachzuvollziehen.

Ganz besonders hilfreich ist es rund um die acht Jahreskreisfeste. Dann „dockt“ dein inneres Sein, kombiniert mit deinem äußeren Dasein, an die seit Äonen gefeierten Feste an, die man zu diesen Zeiten zelebriert hat. Du verbindest dich in deinem Heute mit all jenen, die vor dir waren und setzt einen Anker für die, die nach dir kommen. Du bist du das Bindeglied, zwischen dem was war, dem was ist und dem, was kommen wird. Du stehst im Mittelpunkt dieser Verbindung. Deshalb ist es wichtig zu spüren, wie es dir dabei geht und was du brauchst, damit es dir gut geht.

Mehr musst du nicht tun.
Aber natürlich kannst du das, wenn du willst – daran ist nichts falsch ;)

  • Du kannst ein richtiges Fest daraus machen – jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, an jedem der acht „Feiertage“, und immer wieder dazwischen.
  • Du kannst es mit anderen feiern oder alleine.
  • Du kannst es groß aufziehen oder klein und fein halten.
  • Du kannst orakeln, Kerzen segnen und entzünden, einen Naturgang machen, ums Feuer tanzen, darüber springen u.v.m. – was auch immer du als stimmig und hilfreich ansiehst.
  • Du kannst dir einen besonderen Platz in der Natur suchen – immer den gleichen oder jedesmal einen anderen. Ihn gezielt ansteuern oder dich finden lassen.
  • Du kannst dir den Ablauf komplett neu erfinden, mit deinen eigenen Ideen gestalten, deine eigenen Farben, Räuchermittel, Geschichten dazu geben.
  • Du kannst dich an den Religionen und spirituellen MeisterInnen orientieren, die für dich stimmig sind. Oder dir deinen eigenen Pantheon an Gottheiten und Archetypen gestalten.

Oder du machst dich auf die Suche nach Traditionen, Religionen und Spiritualitäten, mit denen DU innerlich übereinstimmst und nimmst diesen Faden in dein Gewebe mit auf. Wenn du diesen Weg wählst, dann gibt es eine große Regel: Reflektiere, ob diese Tradition gut für dich und das große Ganze ist. Ganz nach dem Motto:

Schadet es keinem, dann tu was du willst.

Recherchiere, lies dich in die Themen ein, prüfe die Verbindungen, frag dich und dein Inneres, ob du damit in Resonanz gehst, ob es sich stimmig anfühlt und du genährt und gestärkt daraus hervor gehst.

Nimm es bitte auf keinen Fall als gegeben an, nur weil es von anderen laut deren Aussagen schon immer so gemacht wurde. Nicht wer laut und länger schreit hat recht. Das kann sein, ist aber in den meisten Fällen nur eine Adaption und in jedem Fall immer eine Interpretation. Es gibt keine alleinige, umfassende Wahrheit, die für jede Zeit, für jede Region passt. Die Feste, der Glauben an Gottheiten, die Verbindung zu den natürlichen Archetypen war immer eine sehr regional orientierte, bestenfalls kleinräumige Version. Im Nachbartal, im nächsten Bundesland, in den Bergen, am Meer … jede Region hat(te) einzigartigen Bräuche und Rituale entwickelt, die sich im Lauf der Zeit auch immer wieder sehr geändert haben. Das war immer so und es gibt gute Gründe dafür, dass auch jetzt so zu handhaben.

Es ist wirklich nicht wichtig wie du die Jahreskreisfeste, die Monate, die Woche, den Tag feierst und die Veränderung der Qualitäten begrüßt. Wichtig ist nur, das Innehalten, zur Ruhe kommen und bewusst wahrnehmen.

2 Comments

  • Andrea Klein-Dezlhofer

    Liebe Michaela Schara,
    vielen Dank für die „gesunden“ Kommentare zu diversen Vorgaben bzgl aller Jahresfeste!
    Die Zwanghaftigkeit mancher Gruppen war und ist für mein Empfinden nicht erklärlich.

    Es tut gut wenn jemand auf das Wesentliche, das Innehalten und ruhig werden hinweist!

    Dankeschön und alles Gute für die Pläne zum neuen Jahr!
    Andrea.

    • Michaela Schara

      Liebe Andrea,
      vielen lieben Dank für deine Rückmeldung zu diesem Beitrag! Ich freue mich sehr, dass du es auch so siehst und wünsche dir gleichfalls alles erdenklich Gute für dieses Jahr!
      Herzlichst,
      Michaela

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