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Vom Frieden finden und Wurzeln wachsen lassen

… er hat seinen Frieden gefunden, er ist frei …“, waren meine Gedanken und soweit ich mich erinnere, habe ich es so auch allen anderen mitgeteilt.

Nun hat er endlich Frieden …“ haben viele gesagt, spontan, als Zeichen von Beileid und Mitgefühl. „Ausgelitten“, war auch immer wieder mit dabei, ebenso wie „erlöst“ und oft auch „nun ist er endlich wieder bei seiner Frau, deiner Mutter!“. Ich habe genickt, es mit Worten und Blicken brav bestätigt. Im Inneren aber wuchsen Widerstand und Aufbegehren.

Ja, Papa hat seinen Frieden gefunden. Er konnte abschließen, was noch offen war, hat seine Ruhe gefunden, schlussendlich. Er konnte sanft über die letzte Schwelle gehen. Doch war sein Leben davor nicht vom Wunsch und der Hoffnung geprägt, endlich wieder mit seiner Frau vereint zu sein. Er wollte, dass sie bei ihm war, im Leben, im Hier und Jetzt. Er wollte, dass alles wieder so war, wie es vor ihrem Tod war, vor sieben Jahren.

Vor genau sieben Jahren.

Sieben Jahre Trauer und Schmerz, von dem Moment an, als Mama ihn so plötzlich „verlassen“ hat.

Sieben Jahre zwischen dem Versuch, einerseits alles so zu erhalten, wie es war, und dem wütenden „Aufräumen“ auf der anderen Seite, um nicht bei jedem Blick daran erinnert zu werden, wer nicht mehr da war.

Sieben Jahre Leiden und Beharren im Leiden – was zwei verschiedenen Haltungen sind. Das eine nennt man Trauerprozess. Das andere hält man fest, damit man den Schmerz weiter spürt, weil er einem vom dem ablenkt, was man nicht spüren mag.

Sieben Jahre zwischen dem Verlust meiner Mutter und dem Tod meines Vaters bedeuten auch sieben Jahre zunehmend intensiver werdende Begleitung und Betreuung, bis hin zur Pflege. Zuerst allein, im Kreis der Familie, dann mit Unterstützung, zum Schluss im Hospiz.

Sieben Jahre – diese Sieben hämmert immer wieder höhnisch und präsent auf meinen Gedanken herum. Wären es sechs oder acht Jahre, wäre es ganz anders, vermute ich. Warum ausgerechnet sieben?

Alle sieben Jahre ändert sich alles, sagt man. Eine Zeitspanne soll so lange dauern, sagt man. Alle sieben Jahre ist man in einem anderen „Menschenalter“, sagt man.

Was bedeutet das, wenn am Anfang und Ende dieser sieben Jahre der Tod der Eltern steht? Zuerst die Mutter, dann der Vater, sieben Jahre später? So genau sieben Jahre später, dass seine Beerdigung an ihrem Todestag war und sein Tod, sein „Frieden finden“ und „erlöst sein“, an dem Tag, wo sie zusammengebrochen war, sieben Jahre zuvor.

Papa hat so viel vergessen, es im Bereich der Dinge abgelegt, die ihm nicht (mehr) wichtig waren. Tausende Kleinigkeiten, ein paar große Wichtigkeiten, unzählige Nichtigkeiten. Aber er wusste jeden Tag auf den Tag genau, wie lang seine Frau tot war, wann genau sie ihn verlassen hat.

Etwas mehr als einen Monat ist es nun her, dass Papa nicht mehr nachrechnen muss, weil er den Weg auf die anderen Seite gefunden hat und dort sind Zahlen und Zeit nicht mehr wichtig. Ich selbst wage es nicht die Tage zu zählen, aus Angst, ein Vielfaches von sieben zu finden und eine neuerliche Gedankenlawine loszutreten. Nur manchmal flüsterte ich ganz leise, wieviel Wochen und Tage es her ist, um es mir gegenwärtig zu machen. Denn ganz realisiert habe ich es noch immer nicht.

Ich weiß, dass dauert, ist ganz normal. Es braucht seine Zeit und nicht umsonst spricht man von einem Trauerjahr, das man durchleben muss. Das gesamte Jahresrad nach einem Todesfall einmal zu durchleben hat etwas von einer Katharsis und fordert zugleich dazu auf, die Feste und Feiern in einer anderen Konstellation zu begehen. Um zu lernen, wie man es nun handhabt. Es ist schmerzende Heilung, ohne Chance auf Abkürzung. Aber in einer tröstenden Dauer, denn es darf auch länger sein. Ein Jahr ist nur das Minimum, niemand hetzt mich.

Was mir hilft: Papa hat wirklich seinen Frieden gefunden – das weiß ich so genau, weil ich dabei war, neben ihm saß, seine Hand hielt. So wie in den Tagen und Wochen davor. Aber dennoch anders, denn da hat er dagegen angekämpft, wollte „es“ nicht wahrhaben, was alle schon wussten und sein Unterbewusstsein ebenfalls bereits akzeptiert hat. Doch Titanen können nicht so einfach aufgeben.

Einmal pro Woche versicherte er mir (und sich?), dass das alles wieder wird, so wie es war.

Einmal pro Woche wurde er wütend, weil vieles von dem, was er gewohnt war zu tun, körperlich nicht mehr möglich war und das war wohl am schwersten zu akzeptieren.

Einmal pro Woche verstummten wir erstarrt und erschöpft, weil jedes Wort zu viel gewesen wäre und der Streit, warum dieses und jenes nicht mehr geht, warum es einfach unmöglich zu bewerkstelligen war, unnötig weh getan hätte und keiner mehr die Kraft hatte für weitere Argumente. Was nicht heißt, das wir es nicht still im Inneren weiter diskutiert hätten.

Fu*k cancer!“ könnte ich schreiben. Aber wenn es nicht der Krebs gewesen wäre, wäre etwas anderes gekommen. Es sollten sieben Jahre sein, aus welchem Grund auch immer. Manchmal habe ich das Gefühl, einen zarten Schleier dieses Grundes zu sehen, in der Ferne, wie einen Dunststreif.

Meist senke ich aber die Augen, damit ich nicht Gefahr laufe die Trauertränen loszulassen. Denn wenn die mal fließen, ist so schnell kein Ende. Ich habe ihnen eine Mauer hingestellt, damit ich das tun kann, was ich tun muss: Meine go*tverdammte Liste abarbeiten, die täglich mehr To-Dos hinzu bekommt, also ich an einem Tag schaffe zu erledigen.

Wie eine Persiflage auf vergangenes Brauchtum sind andere, primärbürokratisch Trauerrituale entstanden, die unmittelbar nach dem schmerzlichen Ereignis physisch und psychisch fordern. Denn der Tod naher Angehöriger bringt den Lebenden Listen mit unglaublich vielen, unglaublich sinnlosen, unglaublich mühsamen Dingen, die unglaublich wichtig sofort und rasch zu erledigen sind. Versicherungen müssen umgeschrieben, geändert, angepasst werden. Strom und Gasverträge geändert, Schränke müssen ausgeräumt und der Inhalt sorgsam „verbracht“ werden. Wichtige Sachen müssen versorgt und unzählige Tätigkeiten müssen in die Wege geleitet werden. Unterlagen und Dokumente müssen gesucht und vorgelegt werden, immer und immer und immer wieder, jahrelang. Das weiß ich noch vom Tod meiner Mutter.

Es dauert Jahrzehnte, gefühlt sieben mal sieben Jahre, bis sich das Ableben eines Menschen in den Tiefen der behördlichen Grabkammern herumgesprochen hat. Gesegnet sei der Datenschutz usw. Aber es kann nicht viel her sein mit diesen ach so schützenswerten Daten, die ewig und drei Tage hinter allem hinterherhinken und sich nicht mit neuen Tatsachen abfinden können.

Das Allermühsamste an diesen Listen-Dingen, ist die Kommunikation mit Banken (die buchstäbliche Vorhölle!), Telefon/Strom-Anbietern, Versicherungen und anderen Grausamkeiten des täglichen Daseins. Nicht der Inhalt oder das, was getan werden muss – das sind lächerliche Peanuts, ähnlich komplex wie das Umlegen eines Schalters. Es geht um das Erreichen echter Menschen, die wissen, was zu tun ist UND es auch zeitnah tun. Ich habe keine Ahnung mehr, mit wie vielen dämlichen ChatBots und enervierenden Hotlines ich in den letzten Wochen Kontakt hatte. Sinnlosen Kontakt, wohlgemerkt. Ist mein Nervenvorrat aufgebraucht, bitte ich meinen Mann einzuspringen – weil das Zeug erledigt werden muss. Auch wenn das Finden eines Gegenübers, das tut, was getan werden muss, tödlich mühsam ist.

Trotzdem bin ich dankbar, dass ich mich damit beschäftigen kann, anstatt zuzuschauen, wie die Tränenmauer immer dünner wird. An manchen Tagen ist nur so stark wie ein löchriger Seidenvorhang. Während ich in Warteschleifen hänge oder versuche eine Kontaktadresse zu finden, die nicht gefunden werden will, habe ich Zeit die Mauer trocken zu legen und zu stabilisieren. Ich weiß selbst, dass das eine blöde Idee ist und es besser wäre, sie einzureißen, den Strom über mich fließen zu lassen, bis er wieder versiegt. Aber ich habe keine Kraft dafür. Ich muss diese verdammten To-Dos abarbeiten, weil wir keine sieben Jahre Zeit haben, um das alles zu erledigen. Und weil es mich daran hindert an das zu denken, was dahinter lauert, was an manchen Tagen sogar darüber hinweg blickt und mir einen tiefen, bedeutungsvollen Blick zuwirft.

Nun bist du die Herzwurzel – die Verbindung zwischen dem, was auf dieser Seite ist und denen, die vorausgegangen sind“, hat mir ein Freund vor ein paar Wochen gesagt. Und wieder ich habe diesen Blick gespürt, wie er auf mir ruht – der lauernde Blick des eigenen Wissens, das ich nun die Alte bin, die unterste Generation, die zwischen den Ahnen und den Nachkommen steht. „Wir sind die nächsten in der Reihe“, hat eine Freundin launisch-frustriert gemeint.

Jetzt bin ich auf dem Platz, den mein Vater vor ein paar Wochen und meine Mutter vor sieben Jahren frei gemacht hat.

„Was wirst du nun tun? Wie gehst du es an? Was planst du? Und wie wichtig nimmst du das alles, dich und den Rest? Wo hast du deine Prioritäten? Denn du musst dich nun entscheiden, alles geht sich nicht mehr aus … möglicherweise … also, wo fängst du an? Du musst etwas tun, aber entscheide weise, was das sein soll!“, scheint mir dieser Blick zu sagen und ich habe kaum eine Ahnung, was ich mir darauf antworten soll.

Papa hat seinen Frieden gefunden. Ich war dabei, ich weiß es so sicher, wie nur irgendetwas sicher ist. Ich weiß, wie schwer er es sich gemacht hat, weiß wie und wer ihm wie und wo und wann geholfen hat. Ich weiß, was ich alles versucht habe, wie wir darüber gesprochen haben und wie sehr ich es mir für ihn und für mich gewünscht habe, dass er diesen, so unglaublich wichtigen Frieden findet.

Er hat ihn gefunden und das wollte er mir noch mitteilen, er hat so lange gewartet, bis er es mir „sagen“ konnte. Dann ist er gegangen und ich hab eine Hand gehalten, die nicht mehr nach diesem so lange abgelehnten Frieden suchen musste. Weil der, dem sie gehörte, ihn gesegnet und segnend gefunden hat.

Seinen zweiten Elternteil zu verlieren bedeutet auch, dass man den ersten nochmal verliert. Waise zu sein tut auch in dem Alter weh, wo es zu einem „natürlichen“ Vorgang wird. Auch wenn es von Mutter Natur so eingerichtet ist, dass die Eltern vor den Kindern gehen. Die Logik flüstert einem zu, dass es normal so ist. Das Herz weint dennoch bitter und der Schmerz ist da, die Logik verfluchend.

Wurzeln geben Halt und sie sind voll mit dem, was nährt, was Kraft gibt. Wurzeln liefern einem Baum vor allem Wasser und Wasser ist der energetische Träger der Emotionen. Ohne dieses Wasser sind Wurzeln unfassbar leicht, um vieles leichter als das Holz des Baumes, dem sie Halt geben. Ich beschäftige mich seit langem mit Wurzeln, die ich überall sehe, überall finden, die mich manchmal stolpern lassen, aber immer wieder zum Staunen bringen.

Wurzeln sind reine, fassbare, kraftvolle Magie und sie finden Wege, wo keine sind. Das hat mich jeder Baum, vor allem aber der Wald gelehrt.

Meine Ahnenwurzeln sind nun vollzählig. Ich bin die, die zwischen ihnen und dem schweren, starken, lebendigem, nach oben wachsenden Holz steht – bin die Verbindung nach oben und nach unten.

Noch habe ich keine Ahnung, was ich in dieser Funktion zu tun habe oder was ich mit diesem Wissen und dieser Stellung anfange. Es spürt sich seltsam, beängstigend und zugleich verheißungsvoll an. An manchen Tagen spüre ich Neugier und das macht Mut. Denn wo Neugier ist, ist auch Kreativität. An den meisten Tagen bin ich zu müde, zu wütend oder zu traurig um mich mit diesen Gedanken auseinanderzusetzen. Irgendwann wird die Zeit da sein und das Wissen wartet so lange auf mich.

Denn Wurzeln sind auch unglaublich geduldig, sie können lange warten und suchen derweil neue Wege, um Halt zu geben, zu nähren oder Kraft liefern. Das habe ich am Bett meines Vaters wieder gelernt.

Es beruhigt mich täglich zu wissen, dass er seinen Frieden gefunden hat.
Nun muss ich nur noch den meinen finden und getragen von den Wurzeln sanft in alles andere hineinwachsen.

3 Comments

  • Gabriele Haar

    Liebe Michaela,
    vielen Dank für deine wunderschönen und offenen Worte. Vielen Dank, dass du uns teilhaben lässt, an deinen Gedanken und Gefühlen. Wie schön, dass du dir dies Zeit gibst, über diese Zeit nachzudenken und in dich hinein zu spüren.
    Ich lasse mich leider immer noch von den täglichen To-Do´s überwältigen und abends bin ich zu erschöpft um diese Gedanken noch zu denken oder die Gefühle zu erfühlen – auch eine Form der Verdrängung. Meine Tränenmauer ist so hoch und so dick, dass es vermutlich noch einige Jahre benötigt, bis diese in sich zusammenbricht und das obwohl meine Mutter bereits 11 Jahre und mein Vater 5 Jahre verstorben sind.
    Deien Worte helfen mir, doch wieder etwas inne zu halten und zu realisieren, dass es da noch einiges zu tun gibt. Die Trauer muss gelebt werden, ob wir es wollen oder nicht. Wenn nicht gleich, dann eben später.

    Vielen Dank auch, für diese wundervolle Seite, die mir immer wieder viele Inspirationen gibt, meinen Naturweg zu gehen.

    Herzliche Grüße
    Gabi

  • Margit Polly

    Wunderbar tief berührende Worte…in mir kommen Erinnerungen hoch, an Zeiten, die ich vor mehreren Jahren 2fach, nacheinander, erlebt habe….ja: die Trauer hat sich verändert, sie ist nicht mehr wild, sondern „friedlich“ geworden….wünsche dir Geduld und Kraft!

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