Die vielschichtige Ambivalenz der Stille

Erholsam und beängstigend.
Ernüchternd, wütend machend, lauernd.
Friedlich, beruhigend, nährend.

Stille ist vieles – und sie wechselt ihre Gestalt.
Wir suchen sie und wir fürchten sie.
Im ersten Fall macht sie sich gerne rar, im zweiten überfällt sie uns oft unvermittelt, ohne Vorwarnung.

Stille macht etwas mit uns, was Lärm und ständige Ablenkung kaum zustande bringen.
Sie berührt uns auf allen Ebenen. Sie kann heilen – und zugleich alte Wunden aufreißen. Sie zwingt uns hinzuhören. Und manchmal auch hinzusehen.

Stille als Sehnsucht – und als Zumutung

Der Winter gilt als Zeit der Stille, sagt man.
Weihnachten als die stillste Zeit des Jahres, hört man.
Innehalten, still werden, zur Ruhe kommen – liest man.

Doch so einfach ist das nicht.

Stille will gefunden werden.
Sie will gestaltet, gehalten und integriert werden, damit sie heilsam wirken kann.
Stille ist Arbeit. Sie fordert uns auf, dorthin zu lauschen, wo wir sonst gerne vorbeihören. Dorthin, wo etwas sein könnte, das wir im Lärm des Alltags überdecken.

Und Stille ist nicht immer freundlich.

Wenn Stille warnt

In der Natur ist Stille ein Signal.
Wenn ein Wald plötzlich still wird, horchen wir instinktiv auf. Unser Körper weiß: Etwas stimmt nicht.

Diese Reaktion sitzt tief. Sie greift auf unsere archaischen Wurzeln zu – auf jene Ebene in uns, die Gefahren nicht analysiert, sondern spürt. Angriff, Flucht oder regungsloses Verharren. Still werden, um zu überleben.

In diesem Kontext wird Stille zu einem Überlebensmittel.
Nicht beruhigend, sondern hochkonzentriert. Wach. Alarmiert.

Auch diese Seite gehört zu ihr.

Stille und das Ende

Stille ist auch ein starkes Symbol für das Ende – für den Tod.
Für das physische Ende eines Lebens ebenso wie für das Verstummen von Beziehungen.

„Er hat mich geghostet. Kein Ton, keine Nachricht, keine Antwort – nur diese furchtbare Stille.“
Ein Satz, der vielen vertraut ist. Die Worte fehlen, um einen Abschied auszusprechen, und so übernimmt die Stille diese Aufgabe. Brutal. Endgültig.

Sich anzuschweigen ist eine der schmerzhaftesten Formen von Einsamkeit in Beziehungen.
Hier wird Stille zur Waffe. Nicht laut, aber tief verletzend.

Und doch kann sie auch das genaue Gegenteil sein:
Gemeinsam schweigend beisammen sein. Keine Worte brauchen, um Nähe zu spüren. Sich still anzuvertrauen.
Eine Form von Verbundenheit, die nur dort entsteht, wo Vertrauen gewachsen ist.

Die heilsame Stille

Stille gehört auch zur Meditation.
Ob wir Atemübungen machen, im Shavasana liegen oder unsere Gedanken still vorbeiziehen lassen – all das geschieht in der Abwesenheit von äußeren Reizen.

Wenn das Außen leiser wird, bekommt unser Gehör eine Pause. Das Gehirn muss weniger verarbeiten und kann sich neu sortieren. Aufmerksamkeit richtet sich nach innen.

Für manche Menschen ist das eine Wohltat.
Für andere eine Überforderung.

Nicht jede Stille ist heilsam – und nicht jede Unruhe ein Zeichen von Scheitern.
Sanfte Musik oder geführte Meditationen können Brücken sein, wenn das Nervensystem mit der Stille noch nicht allein bleiben kann. Auch das ist ein Weg.

Warum absolute Stille unerträglich ist

Stille hat unglaublich viel zu bieten – obwohl es sie in ihrer absoluten Form gar nicht gibt.

Die sogenannte absolute Stille, in der wirklich kein Geräusch mehr wahrnehmbar ist, ist für Menschen mit gesunden Sinnen kaum auszuhalten. In Redmond (USA) befindet sich eine schalltote Kammer, die nahezu alle Geräusche schluckt. Was bleibt, sind der eigene Atem, der Herzschlag, das Gluckern des Körpers.

Ohne Umgebungsgeräusche fehlt uns ein wichtiger Orientierungssinn.
Das Gehirn beginnt, selbst Geräusche zu erzeugen. Halluzinationen entstehen – nicht als Krankheit, sondern als Versuch, Ordnung herzustellen.

Auch das zeigt:
Wir brauchen Resonanz. Außen wie innen.

Stille als gelebte Erfahrung

Bei den Ritualwanderungen, die wir im Rahmen des Vereins organisiert haben, gab es zu Beginn immer eine Phase des gemeinsamen Schweigens. Kein Befehl, sondern eine Einladung.

Eine Einladung, aus dem Alltag auszusteigen und in einen mobilen Ritualraum einzutreten.
Eine Andacht im Gehen.
Mit der Bitte, den Blick nicht suchend, sondern sanft werden zu lassen. Die Umgebung in sich einsinken zu lassen – ohne Bewertung, ohne Druck.

Auch in Natur-Coachings habe ich der Stille immer wieder Raum gegeben. Menschen durften einfach sein. Kein Tun, kein Müssen. Ankommen.

Es war jedes Mal berührend zu erleben, was diese wenigen Minuten bewirken konnten:
Wachere Blicke. Ruhigere Aufmerksamkeit. Präsenz, die von innen kam.
Still. Und doch lebendig.

Eine Einladung

Ich lade dich ein, die sogenannte stillste Zeit des Jahres bewusst für dich zu gestalten.
Taste dich langsam heran. Schenk dir täglich ein paar Minuten.

Vielleicht mit einem Wecker mit Vibrationsalarm – damit der Schreck am Ende die Geschenke der Ruhe nicht gleich wieder zunichtemacht.
Leg dein Handy weg. Dreh Geräuschquellen ab.

Vielleicht findest du einen Platz in der Natur, warm eingepackt.
Oder einen Ort bei dir zu Hause, an dem du dich gemütlich niederlässt und einfach zuhörst.

Dem Ticken einer Uhr.
Den Fahrzeugen in der Ferne.
Dem leisen Schnarchen von Hund oder Katze.
Dem Gluckern der Heizung.

So viele Geräusche sind da – obwohl offiziell „alles still“ ist.

Und dann richte dein Lauschen nach innen.
Was hörst du?

Es ist eine kleine, aber kraftvolle Übung.
Gut geeignet am Ende eines Tages – oder mitten im überreizten Alltag, wenn alles zu viel wird. Dann kann sie zu einem stillen Rettungsanker werden.

Wir leben in einer lauten Welt, die unsere Sinne rund um die Uhr fordert.
Ein stiller Reset kann viel bewirken.

Vielleicht ist genau das eines der wertvollsten Geschenke, die du dir selbst machen kannst.

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